Sonntag, 30. April 2017
Wolf Singer, Matthieu Ricard "Jenseits des Selbst"
Hier meine Rezension zum Nachhören (klick)
Der Neurowissenschaftler Wolf Singer und der buddhistische Mönch Matthieu Ricard haben sich acht Jahre lang immer wieder zu Gesprächen getroffen. Matthieu Ricard, der offizielle Französisch-Übersetzer des Dalai Lama, war früher Molekularbiologe, und deshalb begegnen sich zwei Wissenschaftler auf Augenhöhe.
Sie sprechen über Freiheit und Liebe, Wahrnehmung und Bewusstsein, über Achtsamkeit und die Frage, ob es ein Selbst gibt oder nicht. Was der Buddhismus bekanntermaßen verneint: Es gebe keine Entität namens Selbst, nur einen kontinuierlichen Strom von Erfahrungen. Der Neurowissenschaftler sieht das natürlich anders: Ein starkes Selbst sei notwendig, um in der Welt zu bestehen. Der Mönch kontert: Nicht ein starkes Selbst sei notwendig, sondern ein starker Geist. In der Frage nach dem Selbst kommen sie zu keiner Übereinstimmung, was auch nicht zu erwarten war. Der Urgrund des Seins oder die "primäre Ursache", wie Matthieu Ricard es nennt, entzieht sich der Untersuchung durch die Wissenschaft. Noch zumindest.
Sie kommen oft von weit entfernten Positionen aufeinander zu, sind keineswegs immer einer Meinung (wie erfrischend!), lauschen aber dem anderen mit Aufmerksamkeit und echtem Interesse. Und nachdem sie die Begriffe des anderen geklärt haben, finden sie manchmal überraschende Übereinstimmungen.
Ein anspruchsvolles, bereicherndes Buch. Nicht nur für Wissenschaftler und Meditierende. Große Lese-Empfehlung von mir.
Montag, 17. April 2017
Friedvolle Ostern
Was sind das für Zeiten, in denen die Osterbotschaften der Kirchen nicht frohe Botschaften sind. Sondern von Krieg, Gewalt und Terror sprechen.
Thich Nhât Hanh sagt uns immer wieder, dass die Welt ein Spiegel ist für unseren Geist: "Ihr könnt erst Frieden erschaffen, wenn ihr selbst friedvoll seid."
So höre ich das wunderbare Lied "Verleih und Frieden gnädiglich" von Felix Mendelssohn, das mein Chor gerade für das nächste Konzert probt: Als Erinnerung daran, den tiefen Frieden zu berühren, der das wahre Wesen meines Seins ist - des göttlichen Seins, von dem wir alle Teil sind. Vielleicht erschafft dann mein friedvoller Geist in der winzigen Ecke der Welt, die ich bewohne, ein wenig Gewaltfreiheit.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern meines Blogs ein friedvolles Osterfest.
Donnerstag, 13. April 2017
Ratlose Tauben, ein beleidigter Kater und ich, die über unterschiedliche Prioritäten nachdenkt
Die restlichen Federn sind vom Winde verweht |
Der Kater hat eine Taube gefleddert.
Ich habe das gar nicht mitbekommen. Es gab ein paar dumpfe Schläge auf dem Dach, und da sprang er schon auf den Balkon, der Kater, und legte mir ein großzüges Maulvoll Federn vor die Füße. Dann bemerkte ich die große Stille über mir. Das jährliche Balzgegurre auf dem Dachfirst war verstummt. Kein Nestbau mehr unter der Solaranlage, dort, wo kein Mensch hinkommt, ohne in Gefahr zu sein, sich den Hals zu brechen. Die Federn vor meinen Füßen waren Taubenfedern.
Zwei Stunden später entdeckte ich das Taubenpaar auf dem Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses. Die eine sah an der rechten Seite aus wie gerupft. Beide wirkten irgendwie ratlos. Und waren sehr sehr still. Ihr Taubenuniversum war aus dem Lot geraten. Sie hatten doch nur einen sicheren Platz für ihren Nachwuchs gesucht; den Platz kannten sie seit Jahren, der war doch immer gut gewesen. Feinde, hatten sie gelernt, kommen von oben, in Form von Habicht, Bussard, Uhu. Welche Taube rechnet mit einer Katze auf dem Dach! Vielleicht müssen jetzt im Taubenhirn ganz neue neuronale Schaltungen gelegt werden. Man kennt das ja von Vögeln, die als Gemeinschaft das übernehmen, was einer der Ihren gelernt hat, wie Rupert Sheldrake in seinen Forschungen zu den morphogenetischen Feldern so eindrücklich zeigt. Also wird vielleicht in die Hirne aller künftigen Tauben einprogrammiert: Nistet nicht auf Dächern, da lauert der Feind. Und der Kater hätte einen wertvollen Beitrag geleistet zur Verminderung der Taubenpopulation in Städten.
Ich habe mit dem bösen Kater geschimpft. Da war er sehr beleidigt; er hatte doch nur getan, was Katzen eben so tun, und mir sogar diese schönen Taubenfedern zum Geschenk gemacht. Wenn er beleidigt ist, klappert er mit dem Gebiss und gibt ein Widermaunzen mit einem Knurren als Unterton. Ich schimpfe. Er knurrmaunzt. Er hat immer den letzten Ton, weil ich irgendwann aufgebe.
Ich sah dann das Taubenpaar wegfliegen. Die Gerupfte flog etwas taumelnd, aber sie flog. Und seitdem ist keine Taube mehr zu sehen in meinem Viertel.
Der gute Kater. Der mir so eine herrliche Stille erschaffen hat.
(Übrigens: Mal auf den kleinen Button "Kommentare" unten klicken. Da steht auch Lesenswertes. Man kann auch selbst Gedanken dort hinterlassen. Nur mal so als Anregung ...)
Dienstag, 4. April 2017
Künstler der Stille #5: Agnes Martin und die atmenden Bilder
Kunstmuseum Winterthur im Frühjahr 1992. Ich hatte ein Bild aus einer Ausstellung in meiner örtlichen Zeitung gesehen und war in die Schweiz gefahren, um diese unglaublichen Bilder im Original zu sehen. Es waren kleine Arbeiten auf Papier, Linien, Gitter, ein Hauch von Farbe im Hintergrund. Ich war die einzige Besucherin. Ich blieb drei Stunden und war glücklich. Das kann ich nicht erklären: Dieses tiefe Glücksgefühl, das die Bilder von Agnes Martin immer wieder in mir auslösen. Es ist ein Glück, das aus Leichtigkeit, Licht, Weite und Freiheit besteht. Aus Alleinsein. Aus Einverstandensein mit dem, was ist. In diesen Bildern bin ich zu Hause.
Ich kaufte den schmalen Katalog mit ein paar Schriften von einer, die das Wort nicht mochte und nicht brauchte. Jemand sagte mir, sie habe in den letzten fünfzig Jahren ihres Lebens keine Zeitung mehr gelesen. Das verstand ich sofort. Sie brauchte keine Neuigkeiten. Sie hatte das Sein, den Urgrund, aus dem sie schöpfte. Sie wusste so viel. Alles, was wirklich wichtig ist, wusste sie.
Ihr Kunsthändler und Vertrauter der letzten Jahre Arne Glimcher sagte: "The painting is a key to the art within you." Diese Bilder sind Meditationsobjekte. Sie öffnen uns für den Künstler in uns selbst. Also für das, was wir wirklich sind.
"Our inspirations come as a surprise to us. Following them our lives are fresh and unpredictable. But if in disobedience we imitate the lives of others or follow concepts or precepts our lives will be dull and unsatisfying and predictable. You can only be happy by being on the path of your unfolding potential. The path will be revealed to you by a request to your own mind.
Inspiration is a command. While you have a choice that is not inspiration. If a decision is required that is not inspiration and you should not do anything by decision. It is simply a waste of time. Only actions carried out in obedience to inspiration are effective.
To discover the conscious mind in a world where intellect is held to be valuable requires solitude - quite a lot of solitude. We have been very strenuously conditioned against solitude. To be alone is considered to be a grievous and dangerous condition.
Best things in life happen when you are alone. All revelations." Agnes Martin
"Unsere Eingebungen kommen zu uns als Überraschung. Folgen wir ihnen, ist unser Leben frisch und unvorhersehbar. Aber wenn wir nicht gehorchen und das Leben von anderen nachahmen oder Konzepten und Geboten folgen, wird unser Leben langweilig, unbefriedigend und berechenbar sein. Du kannst nur glücklich sein, wenn du auf dem Weg deines sich entfaltenden Potenzials bist. Der Weg wird dir gezeigt, wenn du deinen eigenen Geist darum bittest.
Eingebung ist ein Befehl. Wenn du eine Wahl hast, ist das nicht Eingebung. Wenn eine Entscheidung verlangt wird, ist das nicht Eingebung, und du solltest nichts auf Grund einer Entscheidung tun. Das ist einfach Zeitverschwendung. Nur Handlungen, die der Eingebung gehorchen, sind wirkungsvoll.
Den bewussten Geist in einer Welt zu entdecken, die den Intellekt für wertvoll hält, erfordert Alleinsein - ziemlich viel Alleinsein. Wir sind sehr energisch gegen das Alleinsein erzogen worden. Allein zu sein wird als schmerzhafter und gefährlicher Zustand betrachtet.
Die besten Dinge im Leben geschehen, wenn du allein bist. Alle Offenbarungen." Agnes Martin
Hier ein Video aus ihren letzten Lebensjahren.
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