Montag, 29. Juli 2024

Barbara Bleisch "Mitte des Lebens"


Die Philosophin Barbara Bleisch moderiert neben Yves Bossart und Olivia Röllin die "Sternstunde Philosophie" im Schweizer Fernsehen. Soeben ist ihr neues Buch "Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre" im Hanser Verlag erschienen. Die Jahre zwischen fünfunddreißig und fünfundsechzig sind eine Art terra incognita. Die früheren Entscheidungen sind oft nicht mehr stimmig, aber neue Wege sind noch nicht in Sicht. Eine gute Ausgangssituation für eine philosophische Untersuchung, findet Barbara Bleisch und zitiert Ludwig Wittgenstein, der die Einsicht, sich nicht auszukennen, als Grundform jedes philosophischen Problems ansah.

Barbara Bleisch erteilt keine Ratschläge. Sie hat vielmehr eine, wie sie es nennt, „Landkarte für die Wanderung durch die Landschaft der eigenen Möglichkeiten“ geschrieben. Gerade die mittleren Jahre sind ja anfällig für Krisen, denn die vorläufige Bilanz des gelebten Lebens enthält Erfolge und Höhepunkte ebenso wie enttäuschte Hoffnungen. Barbara Bleisch aber weist darauf hin, dass gerade die Umwege zu unserem wichtigsten Erfahrungsschatz gehören. Welches Fazit zieht sie aus dieser Lebensspanne, in der sie sich selbst befindet?

"Lieber überschäumend vor Träumen und Sehnsüchten sein und einsehen müssen, dass nicht alles gelebt werden kann, was einen reizt, als ein langweiliges Schalentier oder eine deprimierte Person, die gar keine Sehnsucht kennen."

Meine Rezension in SWR Kultur findest Du hier (klick)

Und falls Du diese kluge und sympathische Autorin noch nicht kennst, kannst Du sie zum Beispiel in diesem Interview mit dem Mönch Matthieu Ricard erleben: 


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Mittwoch, 17. Juli 2024

Die Qual der Wahl


Nach welchen Kriterien triffst du deine wichtigen Entscheidungen?

Sagen wir mal, du hast endlich den Job deiner Träume gefunden. Sehr gut bezahlt, voller Möglichkeiten, dich kreativ zu betätigen, beste Aufstiegschancen. Allerdings lebst du in Berlin und müsstest beispielsweise in die Lüneburger Heide umziehen (tolle Firmen sitzen inzwischen oft auf dem Land). Dein Partner, deine Partnerin muss/will aber in Berlin bleiben. 

Wahrscheinlich besprichst du das Thema mit allen, die dir nahestehen. Der Vater rät zu (Karriere!), die Mutter und Freundin Hanna raten ab (Beziehung ist wichtiger als Karriere!). Du machst eine Liste mit dem Pro und dem Kontra, und beide Seiten sind gleich lang. Du bist so klug wie zuvor, grübelst und schläfst schlecht. Manche Menschen legen in solchen Momenten Tarot-Karten, werfen ein I Ging oder pendeln. Kann man machen, aber natürlich sind all diese Hilfsmittel nicht das, was zu sein sie behaupten: eine Vorhersage der Zukunft. Sie funktionieren vielmehr wie ein Spiegel: Sie zeigen dir dein eigenes tiefes Wissen über die Situation. Um dieses Wissen zu berühren, brauchst du aber keine Karten. Das schöne deutsche Wort un-Mittel-bar weist einen anderen Weg, den direkten.

Wenn ich eine schwierige Entscheidung treffen muss, setze ich mich auf mein Kissen und meditiere. So entsteht in meinem Geist ein weiter Raum der Stille und Leere, in dem sich jetzt eine andere, die wichtigste, Instanz zu Wort melden kann: mein Wahres Selbst, die Quelle, der Ursprung alles Seienden, das Göttliche - du kannst es aber auch ganz einfach Intuition nennen. Intuition ist kein Gefühl. Ihre Stimme ist leise, aber überzeugend, und sie zu hören erfordert Geduld. Die Antwort kommt in einem Bild, einem Satz, einer Ahnung, einer Gewissheit - und oft später und nebenbei, vielleicht wenn ich gerade koche, dusche oder mit jemandem im Gespräch bin. Ich halte inne und weiß: Das ist es. So mache ich es.

Nun weiß ich aber, dass nicht jede und jeder so viel Meditationserfahrung hat wie ich. Und ich weiß auch, dass manchmal die überzeugendste Antwort hinterher begrübelt und dadurch zum Verstummen gebracht wird. Gibt es denn eine Möglichkeit, durch Denken zu der besten Antwort zu gelangen?

Die amerikanische Philosophin Laurie A. Paul lehrt an der Yale University. Bei ihr habe ich diesbezüglich einen sehr guten Satz gelesen. Sie schlägt die Frage vor: 

"Will ich herausfinden, wie mich diese Entscheidung verändert?" 

Die Frage ist deshalb so gut, weil sie etwas klarmacht, was wir gern übersehen: Jede Entscheidung verändert uns. Wir wissen nicht, wie wir uns einfügen werden in die neue Firma, wir wissen nicht, wie man uns empfangen wird, ob wir zufrieden sein werden und ob die Fernbeziehung halten wird. Aber auch die Entscheidung, alles beim Alten zu belassen, verändert uns. Selbst wenn wir in unserem Beispiel in Berlin und im alten Job und in der gewohnten Beziehungsform bleiben, hat es das tolle Angebot und unsere Absage gegeben. Wir sind nicht mehr die, die wir waren, bevor das Angebot kam. Weil uns jeder Schritt, den wir unternehmen, verändert, können wir vorher nie mit Bestimmtheit sagen: Dies ist richtig, dies falsch.

Die Frage dagegen eröffnet uns einen Raum, der jenseits von Richtig und Falsch ist. In diesem Raum lebt die Neugier auf das, was wir sein könnten und noch nicht sind, aber vielleicht sein werden - durch diese Entscheidung, egal, ob dafür oder dagegen.

(Hier wird es eine kleine Sommerpause geben. Wir hören und lesen uns wieder, auf jeden Fall.)

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Samstag, 13. Juli 2024

Steffen Diemer, Fotograf der Stille

 


Zwanzig Jahre reiste der Fotoreporter Steffen Diemer durch die Krisengebiete der Welt und dokumentierte Krieg und Gewalt für Magazine wie Der Spiegel und National Geographic. Dann wurde vor seinen Augen ein Mensch, der ihm wichtig war, erschossen, und Steffen Diemer zog sich zurück nach Landau in die Pfalz. Bis heute versucht er, Geist und Seele von dem, was er gesehen und erlebt hat, zu heilen, und er tut das so, wie es alle Künstler tun: Er arbeitet in seinem Metier.

Als er nicht mehr wusste, wie es mit der Fotografie für ihn weitergehen sollte, trat eine uralte Technik in sein Leben: das Nassplatten-Kollodium-Verfahren. Eine anspruchsvolle Technik, die volle Konzentration erfordert - und sehr viel Zeit braucht, mitunter pro Arbeit drei Wochen. Denn jedes Motiv will genau gesehen und verstanden werden. Minimalistische Bilder entstehen, und jedes Bild gibt es nur ein Mal: Ein Zweig, eine Blüte, ein Stück Gemüse, zumeist auf schwarzem Glas und oft gerahmt auf antiken Stoffen. Es verwundert nicht, zu hören, dass Diemer fast vier Jahre in Japan gelebt hat.

In diesem berührenden Dokumentarfilm begleiten wir Steffen Diemer durch seine Arbeitstage. Gänge durch die Landschaft, heimkommen mit einem Zweig; warten mit der Uhr in der Hand, um den exakt richtigen Zeitpunkt für das Ende der Belichtung abzupassen. Und wir hören - und sehen - einem Künstler beim Nachdenken und schmerzhaften Erinnern zu.

Ein Film, der Stille, Ruhe, Schönheit und Trauer ausstrahlt. Große Empfehlung.

Für alle, deren Browser youtube-Videos nicht wiedergeben: hier entlang (klick)

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Dienstag, 9. Juli 2024

Im Rücken der Statuen



IM RÜCKEN DER STATUEN

da ist Gesicht.

Leg deine Hand auf den Stein
deine Hand hört die Zeit
das Unendliche spricht
in vergessener Sprache

Wir nennen sie: Verfall

Margrit Irgang


ALLE SPALLE DELLE STATUE

é li il viso.

Posa la tua mano sulla pietra
la tua mano ode il tempo
l'infinito parla
una lingua dimenticata

Noi la chiamiamo: dissoluzione

Margrit Irgang
(Trad.: Simona Venuti)


Als ich vor vielen Jahren für ein sorgloses Jahr in der Villa Massimo in Rom lebte, der deutschen Residenz für bildende Künstler, Komponisten und Schriftsteller (und ja, alle in weiblicher und männlicher Gestalt), begann ich zu fotografieren. In der Jahresausstellung der Villa zeigte ich auf einer großen Wand meine vergrößerten Schwarz-Weiß-Fotos und die Gedichte, auf Deutsch und, übersetzt von Simona, auch auf Italienisch.

Eine immer noch wichtige Arbeit über Veränderung und das, was bleibt. Denn nichts vergeht, es wechselt nur seine Gestalt.

Daran sollten wir uns gerade jetzt ab und an erinnern.

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Mittwoch, 3. Juli 2024

Kategorische Urteile

 

Als ich jung war, wusste ich noch genau, was richtig ist und was falsch. Also welche Schuhe zu welchem Outfit zu tragen sind oder wie man ein bestimmtes Getränk richtig zubereitet und trinkt (mit oder ohne Strohhalm oder aus der Flasche). Alles andere war, um es im heutigen Sprachgebrauch auszudrücken, ein No-Go. Mit zunehmendem Alter weiß ich immer weniger; mir erscheint das Leben in seiner Gesamtheit eher unüberschaubar und uneindeutig. Jedes Phänomen, das sich zeigt, ist auf zumeist nicht nachvollziehbare Weise verknotet mit anderen Phänomenen. Mir fällt auf, dass ich auf Fragen immer häufer antworte: "Ich weiß es nicht." Mir fällt auch auf, wie befreiend sich das für mich anfühlt. Ich muss nicht auf alles eine Antwort haben (tatsächlich nehmen die Fragen für mich im selben Maß zu, wie die Antworten abnehmen).

Nun ist dies aber keine gute Zeit für das Nicht-Wissen. Die Weltlage ist prekär und, ich sagte es bereits, unübersichtlich. An allen Ecken und Enden kann jederzeit etwas explodieren, und wegen der allseitigen Verwobenheit ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass nicht nur die betreffende Ecke, sondern ein umfangreiches Ganzes dabei in die Luft fliegt.

Deshalb ist allenthalben die Sehnsucht nach klaren Urteilen groß. Wenn man zu wissen glaubt, was richtig ist und was falsch, kann man sich zumindest in seiner privaten Welt einigermaßen sicher fühlen. In allen Ländern gewinnen jene Parteien zunehmend an Einfluss, die kategorische und angeblich alternativlose "Wahrheiten" verkünden. Darüber wundern oder empören sich, je nach Temperament, viele Menschen. Ich wundere mich nicht, denn ich bin unterwegs. Im Supermarkt, in der Post, im Straßenverkehr. In der Welt der kategorisch verkündeten kleinen und ganz alltäglichen "Wahrheiten".

Obst-Abteilung im Edeka, ein Samstagmittag im Februar. Eine Kundin dreht unschlüssig ein winziges Schälchen Erdbeeren (aus Marokko) in der Hand und entschließt sich zum Kauf. Neben ihr ein Ehepaar in meinem Alter, das die sportliche Methode der Rüge beherrscht: Man wirft seine Bemerkung einem darauf eingespielten Partner zu, der sie im vorher berechneten Winkel zurückspielt auf die Person, der sie gilt. Die Frau, empört: "Erdbeeren im Winter, teuer eingeflogen - so was sollte verboten werden." Der Mann pariert: "Jawohl, kein Mensch braucht Erdbeeren im Winter." Die Erdbeer-Käuferin hat einen Anflug von Röte im Gesicht und flieht. Sie hätte in den Einkaufskorb der Tadlerin blicken sollen. In ihm hätte sie ein Netz Orangen gesehen (aus Spanien).

In meiner Stadt Freiburg fährt man Rad. Sogar der Oberbürgermeister zeigt sich auf Instagram beim morgendlichen Anradeln ins Rathaus. Autos sollen, so das Ziel der Stadtverwaltung, aus dem Stadtverkehr verbannt werden. Das finde ich gut. Leider ist der öffentliche Nahverkehr im Umland noch nicht so ganz in die Idee eingeweiht, er hinkt buchstäblich der Verkehrswende hinterher. Wer schön grün und draußen wohnt (wie ich), muss gelegentlich für ansonsten schwer erreichbare Ziele zu ungünstigen Zeiten sein Auto nutzen.

Ich stehe an der roten Ampel, neben mir hält ein Radfahrer. Plötzlich ein markerschütternder Krach: Der Mann hat seine Faust auf mein Autodach gedonnert. Jetzt springt die Ampel auf Gelb, und er spurtet los. Setzt sich direkt vor mich, obwohl rechts ein breiter, eigens angelegter Radweg mitläuft, bremst ab und beginnt, in der Mitte der einspurigen Straße gemütlich dahinzugondeln. Mit 20, wie mein Tacho verrät. Er fährt genüsslich und lang. In dieser Stadt ist er der Gute, und falls etwas passieren sollte zwischen seinen zwei Rädern und meinen vier, dann hat er vielleicht nicht unbedingt das Recht, aber alle Sympathien auf seiner Seite.

In dieser von mir sehr geliebten Stadt hat es das "Anti-Luxus-Kollektiv" auf Autos größerer Bauart abgesehen, vorzugsweise SUV. Sie ziehen nachts in kleinen Gruppen durch die besseren Viertel, schrauben die Ventilkappen der Reifen ab, drücken eine Linse hinein - ja, eine gewöhnliche Speiselinse, die kleinen grünen eignen sich gut -, schrauben die Kappen wieder auf, und während sie sich aus dem Staub machen, entweicht langsam die Luft aus den Reifen. Vor ein paar Tagen waren sie wieder unterwegs, nach eigenen Angaben haben sie an die 200 Autos fahrunfähig gemacht. In der Presse äußern sich aufgebrachte Wagenbesitzer, und ich sehe, dass es den einen oder anderen guten Grund gibt, in der Stadt ein schweres Auto mit hohem Einstieg zu fahren. Die hundertprozentig gehbehinderte alte Dame zum Beispiel hat einen; ihr Wagen, der für Notfälle einsatzbereit sein muss, stand auf dem Behindertenparkplatz, ihr Ausweis lag hinter der Windschutzscheibe. Oder der Arzt, der seine Patienten bei Hausbesuchen betreut und mehrere Pflegeheime anfährt, jeweils mit Koffern schwerer medizinischer Geräte.

Diese beiden wie die anderen fanden ein Flugblatt an der Windschutzscheibe vor, in dem ihnen vorgeworfen wurde, einen "verbrecherischen Luxus-Konsum" zu pflegen und einen "Angeber-Schlitten" zu fahren: "Deshalb haben wir uns gezwungen gesehen, Ihren Luxuskarren zu entwaffnen."

Jetzt habe ich neue Fragen. Zum Beispiel diese: Wie wäre es, die Ereignisse in der "großen Politik" als Spiegel zu sehen für unsere kleinen alltäglichen kategorischen Urteile, die keinen Schimmer von Verständnis und Mitgefühl zeigen? Wie wäre es, in diesen Urteilen unsere Sehnsucht nach Gewissheiten zu erkennen und diese Sehnsucht zu spüren als das, was sie ist: ein fragiler Zustand, in dem wir uns ausgesetzt und hilflos fühlen? Was wäre, wenn wir erkennen würden, dass unsere kategorischen Urteile über andere uns zumindest vorübergehend das trügerische Gefühl der Macht und Stärke verleihen, das uns weder trägt noch nährt? Wie wäre es, zu erkennen, dass die Ereignisse in der "großen Politik" nicht nur ein Spiegel für uns sind, sondern ihren Ausgangspunkt an unseren Küchentischen und am Gemüsestand des Supermarkts haben? Weil - oh, wie wäre es, dieses Weil zu erkennen - wir mit jedem unserer kleinen gnadenlosen Urteile entsprechende Nervenbahnen in unserem Gehirn gestärkt und gekräftigt haben, sodass irgendwann, in einer Wahlkabine oder auf einer Demonstration oder einfach in der Begegnung mit einem Passanten, der nicht so aussieht wie wir, die Nervenbahnen ganz automatisch und autonom reagieren mit einem Verhalten, das diesen Nerven und uns sehr vertraut ist, denn wir haben es in vielen kleinen scheinbar unbedeutenden Momenten eingeübt?

Wie wäre das?
 

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