Als ich jung war, wusste ich noch genau, was richtig ist und was falsch. Also welche Schuhe zu welchem Outfit zu tragen sind oder wie man ein bestimmtes Getränk richtig zubereitet und trinkt (mit oder ohne Strohhalm oder aus der Flasche). Alles andere war, um es im heutigen Sprachgebrauch auszudrücken, ein No-Go. Mit zunehmendem Alter weiß ich immer weniger; mir erscheint das Leben in seiner Gesamtheit eher unüberschaubar und uneindeutig. Jedes Phänomen, das sich zeigt, ist auf zumeist nicht nachvollziehbare Weise verknotet mit anderen Phänomenen. Mir fällt auf, dass ich auf Fragen immer häufer antworte: "Ich weiß es nicht." Mir fällt auch auf, wie befreiend sich das für mich anfühlt. Ich muss nicht auf alles eine Antwort haben (tatsächlich nehmen die Fragen für mich im selben Maß zu, wie die Antworten abnehmen).
Nun ist dies aber keine gute Zeit für das Nicht-Wissen. Die Weltlage ist prekär und, ich sagte es bereits, unübersichtlich. An allen Ecken und Enden kann jederzeit etwas explodieren, und wegen der allseitigen Verwobenheit ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass nicht nur die betreffende Ecke, sondern ein umfangreiches Ganzes dabei in die Luft fliegt.
Deshalb ist allenthalben die Sehnsucht nach klaren Urteilen groß. Wenn man zu wissen glaubt, was richtig ist und was falsch, kann man sich zumindest in seiner privaten Welt einigermaßen sicher fühlen. In allen Ländern gewinnen jene Parteien zunehmend an Einfluss, die kategorische und angeblich alternativlose "Wahrheiten" verkünden. Darüber wundern oder empören sich, je nach Temperament, viele Menschen. Ich wundere mich nicht, denn ich bin unterwegs. Im Supermarkt, in der Post, im Straßenverkehr. In der Welt der kategorisch verkündeten kleinen und ganz alltäglichen "Wahrheiten".
Obst-Abteilung im Edeka, ein Samstagmittag im Februar. Eine Kundin dreht unschlüssig ein winziges Schälchen Erdbeeren (aus Marokko) in der Hand und entschließt sich zum Kauf. Neben ihr ein Ehepaar in meinem Alter, das die sportliche Methode der Rüge beherrscht: Man wirft seine Bemerkung einem darauf eingespielten Partner zu, der sie im vorher berechneten Winkel zurückspielt auf die Person, der sie gilt. Die Frau, empört: "Erdbeeren im Winter, teuer eingeflogen - so was sollte verboten werden." Der Mann pariert: "Jawohl, kein Mensch braucht Erdbeeren im Winter." Die Erdbeer-Käuferin hat einen Anflug von Röte im Gesicht und flieht. Sie hätte in den Einkaufskorb der Tadlerin blicken sollen. In ihm hätte sie ein Netz Orangen gesehen (aus Spanien).
In meiner Stadt Freiburg fährt man Rad. Sogar der Oberbürgermeister zeigt sich auf Instagram beim morgendlichen Anradeln ins Rathaus. Autos sollen, so das Ziel der Stadtverwaltung, aus dem Stadtverkehr verbannt werden. Das finde ich gut. Leider ist der öffentliche Nahverkehr im Umland noch nicht so ganz in die Idee eingeweiht, er hinkt buchstäblich der Verkehrswende hinterher. Wer schön grün und draußen wohnt (wie ich), muss gelegentlich für ansonsten schwer erreichbare Ziele zu ungünstigen Zeiten sein Auto nutzen.
Ich stehe an der roten Ampel, neben mir hält ein Radfahrer. Plötzlich ein markerschütternder Krach: Der Mann hat seine Faust auf mein Autodach gedonnert. Jetzt springt die Ampel auf Gelb, und er spurtet los. Setzt sich direkt vor mich, obwohl rechts ein breiter, eigens angelegter Radweg mitläuft, bremst ab und beginnt, in der Mitte der einspurigen Straße gemütlich dahinzugondeln. Mit 20, wie mein Tacho verrät. Er fährt genüsslich und lang. In dieser Stadt ist er der Gute, und falls etwas passieren sollte zwischen seinen zwei Rädern und meinen vier, dann hat er vielleicht nicht unbedingt das Recht, aber alle Sympathien auf seiner Seite.
In dieser von mir sehr geliebten Stadt hat es das "Anti-Luxus-Kollektiv" auf Autos größerer Bauart abgesehen, vorzugsweise SUV. Sie ziehen nachts in kleinen Gruppen durch die besseren Viertel, schrauben die Ventilkappen der Reifen ab, drücken eine Linse hinein - ja, eine gewöhnliche Speiselinse, die kleinen grünen eignen sich gut -, schrauben die Kappen wieder auf, und während sie sich aus dem Staub machen, entweicht langsam die Luft aus den Reifen. Vor ein paar Tagen waren sie wieder unterwegs, nach eigenen Angaben haben sie an die 200 Autos fahrunfähig gemacht. In der Presse äußern sich aufgebrachte Wagenbesitzer, und ich sehe, dass es den einen oder anderen guten Grund gibt, in der Stadt ein schweres Auto mit hohem Einstieg zu fahren. Die hundertprozentig gehbehinderte alte Dame zum Beispiel hat einen; ihr Wagen, der für Notfälle einsatzbereit sein muss, stand auf dem Behindertenparkplatz, ihr Ausweis lag hinter der Windschutzscheibe. Oder der Arzt, der seine Patienten bei Hausbesuchen betreut und mehrere Pflegeheime anfährt, jeweils mit Koffern schwerer medizinischer Geräte.
Diese beiden wie die anderen fanden ein Flugblatt an der Windschutzscheibe vor, in dem ihnen vorgeworfen wurde, einen "verbrecherischen Luxus-Konsum" zu pflegen und einen "Angeber-Schlitten" zu fahren: "Deshalb haben wir uns gezwungen gesehen, Ihren Luxuskarren zu entwaffnen."
Jetzt habe ich neue Fragen. Zum Beispiel diese: Wie wäre es, die Ereignisse in der "großen Politik" als Spiegel zu sehen für unsere kleinen alltäglichen kategorischen Urteile, die keinen Schimmer von Verständnis und Mitgefühl zeigen? Wie wäre es, in diesen Urteilen unsere Sehnsucht nach Gewissheiten zu erkennen und diese Sehnsucht zu spüren als das, was sie ist: ein fragiler Zustand, in dem wir uns ausgesetzt und hilflos fühlen? Was wäre, wenn wir erkennen würden, dass unsere kategorischen Urteile über andere uns zumindest vorübergehend das trügerische Gefühl der Macht und Stärke verleihen, das uns weder trägt noch nährt? Wie wäre es, zu erkennen, dass die Ereignisse in der "großen Politik" nicht nur ein Spiegel für uns sind, sondern ihren Ausgangspunkt an unseren Küchentischen und am Gemüsestand des Supermarkts haben? Weil - oh, wie wäre es, dieses Weil zu erkennen - wir mit jedem unserer kleinen gnadenlosen Urteile entsprechende Nervenbahnen in unserem Gehirn gestärkt und gekräftigt haben, sodass irgendwann, in einer Wahlkabine oder auf einer Demonstration oder einfach in der Begegnung mit einem Passanten, der nicht so aussieht wie wir, die Nervenbahnen ganz automatisch und autonom reagieren mit einem Verhalten, das diesen Nerven und uns sehr vertraut ist, denn wir haben es in vielen kleinen scheinbar unbedeutenden Momenten eingeübt?
Wie wäre das?