Im Kräuterdorf
August ist die Zeit, in der die Kräuter ihre größte Kraft gesammelt haben. Jetzt soll man sie pflücken und zu heilkräftigen Tees und Salben verarbeiten und natürlich zu den herrlichen ätherischen Ölen destillieren, die ich so liebe. Im christlichen Kontext fährt ja Maria am 15. August in den Himmel, aber unsere Vorfahrinnen sahen das etwas anders: Der 15. August war der Tag der Kräuterweihe, der Tag der Büschelfrauen, an dem sie ihre Heilkräuter, Zauberkräuter und Räucherkräuter gesammelt und zu Sträußen gebunden haben, die dann überall in Stuben und auf Dachböden zum Trocknen aufgehängt wurden. Immerhin ist der 15. August mit Maria ein Frauentag geblieben. Denn seit jeher sind es die Frauen, die das Wissen um die heilsamen und magischen Kräuter hüten. Völkerkundler halten die Würzweih für ein sehr altes Erntefest der heidnischen Völker.
Bei mir in der Nähe gibt es ein "Kräuterdorf", und die dortigen Büschelfrauen luden zum Kräutertag ein. Man konnte allerlei Gutes und Ländliches erwerben an Ständen unter
Sonnensegeln: Seifen, Gewürze, Tees, Wolle, Marmeladen, Schaffelle, Bergkäse und
selbstgeflochtene Körbe. Unter dem Dach der Klosterscheune ein interessantes Geschäftsmodell, das mir unbekannt war, aber einleuchtete. Es türmten sich Stapel mit Baumwollkissenbezügen in allen Größen und Mustern, an drei Seiten zusammengenäht, die frau sich nach Wunsch befüllen konnte. In großen Plastikeimern gab es alle Kräuter, die ein Garten so hergibt. Eine Frau füllte die Kissen, eine andere saß an der Nähmaschine und schloss die vierte Naht. Ich liebäugelte mit einem kleinen Kissen mit Beifuß, meiner liebsten Räucherpflanze. Der Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl sagt über den Beifuß: "Er heiligt alles, was mit ihm in Berührung kommt. Er verbindet mit den Geistern und dem Großen Geist und schützt gegen böse Einflüsse."
Ein Akkordeonspieler zog währenddessen die Falten seines Instruments auf und zu. Zwischen interessant improvisierten Läufen setzte mein Ohr die Melodie eines deutschen Schlagers zusammen. Es gab Würste, Kaffee, Kuchen und Eiskaffee, an allerlei zusammengewürfelten Tischen angeboten; im Hintergrund hing an einer langen Kabeltrommel ein Kühlschrank und wackelte brummend vor sich hin. Wahrscheinlich hatte er es satt, dauernd aufgerissen zu werden. Zu viel Gesundes ist ja auch irgendwie ungesund, da tut so ein Eiskaffee als Ausgleich richtig gut.
Eigentlich dürfen Heilkräuter ja nie mit Metall in Berührung kommen, und früher pflückten die Frauen im Schweigen - übrigens findet man dieselbe Anweisung bei den Indigenen in Amerika. Die heutigen Büschelfrauen aber plaudern gern und halfen bei Bedarf mit Scheren und Messern aus. Es war heiß, lebhaft, und es duftete hinreißend. Auf großen Tischen häuften sich die Kräuter aus den Gärten des Dorfes, und die Frauen schleppten körbeweise immer mehr Kräuter an.
Wir standen um die Tische herum und wählten die Kräuter für unser Kräuterbüschel oder unseren "Wurzwisch" aus. Die klassische Zahl wäre die Neun, die Zwölf ist ebenfalls heilig, aber ich entschied mich für die nicht minder heilige Sieben, in der sich die erdhafte Symbolik der Vier mit der spirituellen Drei vereint. Die Sieben ist die Zahl der Fülle, die Vorbereitung auf die Vollendung in der Acht. Es gibt die sieben Schöpfungstage, das Buch mit sieben Siegeln, und der jüdische Leuchter hat sieben Arme. Ich wollte einen duftenden Kräuterwisch und wählte Rosmarin, Dost, Minze, Heiligenkraut, Johanniskraut, Schafgarbe und Salbei. Eine nette Büschelfrau band meine Sieben zusammen und knüpfte einen Segensspruch hinein: "Ich wünsche dir die Achtsamkeit und das Erkennen der hilfreichen Pflanzengeister um dich, damit du erkennst, wenn sie ihre Hilfe anbieten."
Mein Wurzwisch hängt nun über meinem Meditationsplatz und duftet betörend. Und ich übe eine neue Form der Achtsamkeit: auf die hilfreichen Pflanzengeister.
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