Die Verwandten der alten Frau
Einmal begegnete ein Mönch auf Pilgerschaft einer alten Frau, die allein in einer Hütte lebte. Der Mönch fragte: "Hast du irgendwelche Verwandten?" Sie sagte: "Ja." Der Mönch fragte: "Wo sind sie?" Sie antwortete: "Die Berge, die Flüsse und die ganze Erde, die Pflanzen und Bäume, sie alle sind meine Verwandten."
China, 9. Jahrhundert
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Ein Mönch trifft auf eine Frau, die alleine im Wald lebt. Welch eine unerhörte Lebensform im 9. Jahrhundert. Selbst heute noch nicht selbstverständlich. Eine Frau, die alleine lebt, ruft bei gewissen Menschen Misstrauen hervor. Männer sind genetisch dafür ausgerüstet, heroisch und einsam auf die Jagd zu gehen und die widerborstige Natur mit ihren Löwen, Hirschen und all dem Grünzeug ihrem Willen zu unterwerfen. Frauen dagegen, ans Häusliche gewöhnt, brauchen Nähe und Wärme in Form von Herd und Mensch. Die Frage des jungen Mönches (er ist mit Sicherheit jung) trieft vor Misstrauen. Jemand muss sich doch kümmern um die arme Alte, muss ihr einen Tee kochen, Feuerholz sammeln. (Er wird dieser Jemand nicht sein, er ist auf Pilgerschaft, um erleuchtet zu werden). Nun muss er die Alte bei ihrer Sippe abgeben, damit er in dem Gefühl, eine gute Tat getan zu haben, weiterziehen kann.
Dumm nur, dass er nicht sieht, wie sehr sie bereits inmitten ihrer Verwandten lebt. Sie sagt nicht: Die Berge, die Flüsse, die Pflanzen sind meine Freunde. Nein, sie sind ihre Familie. Die Familie ist, wie jede gute Familie, fürsorglich. Sie versorgt ihre Großmutter mit allem, was sie braucht: mit Luft, Licht, Nahrung und Wärme. Diese Eremitin hat erkannt, dass sie nicht getrennt ist vom großen Ganzen; sie lebt im beständigen respektvollen Austausch mit allem, was ist, in einem unablässigen Geben und Nehmen, das sich nie erschöpft. Im Kreislauf des Wachsens und Sterbens. Und sie weiß natürlich, dass auch sie ein absterbender Baum ist, der bald in den großen Kreislauf des Vergehens eingehen wird. Ein Baum, der irgendwann zu Humus zerfallen wird, aus dem ein neues Bäumchen wächst.
Leider ist uns die Antwort des Mönchs nicht überliefert. Ich nehme an, er rannnte bis an sein Lebensende der Erleuchtung hinterher und merkte nicht, dass er schon immer mitten in ihr war.
Die Geschichte ist aus diesem schönen Buch, auf das ich gern noch einmal hinweise:
Florence Caplow, Susan Moon (Hg.) "Das verborgene Licht. 100 Geschichten erwachter Frauen aus 2500 Jahren, betrachtet von (Zen-)Frauen heute. edition steinrich.
Hier mehr darüber.