Freitag, 11. August 2017

Steh in deinen eigenen Schuhen! Über den Umgang mit Missbrauch in Spiritualität und Therapie.


Vor einigen Tagen hat mich wieder so eine erschütternde Meldung aus einer spirituellen Schule erreicht: Acht langjährige Schülerinnen und Schüler des bekannten tibetischen Meisters Sogyal Rinpoche - Autor des großartigen Buches "Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben" - haben ihrem Lehrer einen ausführlichen Brief geschrieben, in dem sie ihm den Spiegel über seine Verhaltensweisen vorhalten. Es wird berichtet von Schlägen, Tritten und Bloßstellungen, von sexuellen Beziehungen zu Schülerinnen und einem von der Sangha bezahlten "unersättlichen" Lebensstil. Der Brief ist sachlich, frei von persönlichen Emotionen. Wer ihn lesen will, findet ihn und die völlig unzureichende Antwort von Sogyal auf der Online-Seite der Zeitschrift "Buddhismus aktuell" in deutscher Übersetzung hier (klick).

Mir geht es nicht um diesen speziellen Fall, sondern um das Prinzip. Ich frage mich: Warum haben es diese Schülerinnen und Schüler, die zum Teil seit 20 und 30 Jahren in der Rigpa-Schule sind, nicht früher geschafft, Konsequenzen aus dem zu ziehen, was sie da anscheinend täglich beobachten?

Meister, Lehrer aller Art, Priester und Therapeuten sind Autoritäten. Wir wenden uns an sie, weil sie mehr wissen als wir und uns etwas lehren können. Solche Menschen haben Charisma, sie ziehen uns an, und vielleicht verehren wir sie für ihre Weisheit, Klarheit und Energie. Das ist alles verständlich und völlig in Ordnung, solange der Lehrer/Meister/Priester/Therapeut seine Macht nicht zu seinem eigenen Vorteil missbraucht. 

Zu erkennen, dass ein Missbrauch vorliegt, ist aber gerade in spirituellen, religiösen und therapeutischen Kreisen gar nicht so einfach. Dort gibt es nämlich erwünschte Verhaltensweisen (die wir, um beliebt zu sein, schnell begreifen und annehmen) und einen eigenen Sprach-Kodex. Im Fall des Dharma wird gern gesprochen von "zornvollem Mitgefühl", was jede Demütigung des Lehrers zu rechtfertigen scheint, und wenn der verunsicherte Schüler seine Zweifel zum Ausdruck bringt, ist das "unrechte Rede". In der Therapie wird gern vom "Widerstand" gesprochen. Wie unterscheiden wir also, ob der Lehrer/Therapeut uns zu unserem Besten mit unserer Gewohnheitsenergie konfrontiert - oder ob er seine Macht missbraucht, weil er selbst narzisstisch, egoistisch oder zutiefst gestört ist?

Adyashanti zitiert oft einen Ausspruch seiner Lehrerin, die zu sagen pflegte: "Stand in your own shoes". Steh in deinen eigenen Schuhen! Die Schuhe von anderen sind uns fast immer zu klein, zu groß, zu weit, zu eng. Wir kämen nicht auf die Idee, in solchen Schuhen weite Wege zurückzulegen. Schuhe müssen passen. Und niemand, auch nicht die beste Schuhverkäuferin, kann uns sagen, ob der Schuh wirklich passt. Das wissen nur wir selbst.

Aus meiner eigenen leidvollen Erfahrung mit spirituellen Lehrern und Therapeuten möchte ich Euch ans Herz legen: Bitte gebt Eure klare Wahrnehmung und Eure eigene Verantwortung niemals auf! Wenn wir zulassen, dass unser Geist von Worten, Regeln oder einem bestimmten Sprachgebrauch eingenebelt wird, verlieren wir den Kontakt zu unserem eigenen tief inneren Wissen. Dieses Wissen teilt sich mit durch unseren Körper. Bitte haltet immer wieder inne und spürt in Euch hinein. Krampft sich der Magen zusammen, rast das Herz, wird die Kehle eng, verspannen sich meine Muskeln? Das sind Warnsignale. 


Drei einfache Fragen sollten wir uns immer wieder stellen:

Ist
1. DIES
2. JETZT
3. FÜR MICH
stimmig?

"Passt" hier alles zusammen, für mich, in diesem Moment, in diesem Stadium meiner Entwicklung? Nichts zu klein und eng, nichts zu groß? Und wenn es nicht stimmig ist, nicht passt, in ruhiger und durchaus respektvoller Weise aufstehen und gehen. Dann muss man niemanden beschuldigen, muss keine Auseinandersetzung führen und ist sich auch bewusst, dass die eigene Stimmigkeit nicht die Stimmigkeit der anderen sein muss. 

Aber vielleicht doch. Wo immer ein Kind oder ein Jugendlicher missbraucht wurde, hat es mindestens einen Menschen gegeben, der etwas spürte/ahnte/sah und nicht in seinen eigenen Schuhen stand. Das möchte ich nicht unerwähnt lassen: Die Verantwortung für uns selbst ist nicht zu trennen von der Verantwortung für das große Ganze. In den eigenen Schuhen können wir sicher stehen; deshalb haben wir die Pflicht, aufzustehen und unsere Stimme zu erheben - gegen Missbrauch in jeder Form.

9 Kommentare:

  1. Das macht mich sehr betroffen...einen guten Text hast Du geschrieben. Denn Lernen, bedeutet nicht sich oder andere zu opfern...finde ich.Liebe Grüße, Taija

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  2. ...nun hatte ich Zeit, die Briefe zu lesen. Wie Du bin ich verwundert über ein so langes Stillschweigen, Schüler über einen so langen Zeitraum und sicher sehr viele, die gelitten haben.Manchmal braucht Courage einen langen Anlauf. Möge es uns allen eine Lehre sein. Im Großen wie im Ganzen. Liebe Grüße, Taija

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  3. Wir Menschen sind so unterschiedlich, sodaß es mir immer schwerfiel zu glauben, ein Meister wüßte wie es seinen Schülern wirklich geht."In den eigenen Schuhen" zugehen verlangt Selbsterkenntnis und Eigenverantwortung. Für mich ist es einerseits befreiend, aber oft macht es mir auch Angst.Auf diesem Weg entstehen aber immer wieder die wunderbaren Momente.."und die Wahrheit wird euch frei machen".Ein schöner Titel in einem ihrer Bücher liebe Frau Irgang lautet: Geh wo kein Pfad ist,und hinterlasse eine Spur.
    Liebe Grüße Gitti

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  4. Gott gebe mir die Weisheit meine Macht nicht zu missbrauchen- auch nicht "gut gemeint". Ich mag das Hilfskonstrukt Gott da gern, weil ich mich manchmal so menschlich schwach fühle.

    Hilfreich ist der Perspektivenwechsel für mich: Ich hatte eine Konsultation mit einem narzistischen "Gott in weiß", für den ich extra in die Schweiz gereist bin. Ich hatte angekreuzt auf dem Patientenblatt, dass ich keine lernende Ärztin dabei haben wollte, was mich schon viel innere "Arbeit" gekostet hat (Stimmen, sei doch nicht so kleinlich, müssen doch lernen usw. erstarben gegen nimm Dich wichtig, Du bist eh schon so aufgeregt, unangenehme Stelle). Als dann doch eine Ärztin dabei war, habe ich es nicht geschafft und habe nicht meine Frau gestanden.

    Das hat mich mal wieder sensiblisiert für meine KlientInnen.

    Susanne, die u.a. Therapeutin ist

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  5. Euch allen Dank für Eure Stellungnahmen. Wir müssen wach und sensibel bleiben für dieses Thema.

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  6. Und wieder einmal - warum schweigen viele so lange? Bei allem Entsetzen hat mich der Brief der Schüler aber sehr berührt. Fast liebevoll und zugleich glasklar.
    Und doch... noch immer so viele Menschen die glauben, dass Strafe, Demütigung und Verletzung ein Teil des Weges sind... Ob sich das je ändert? Danke für die Zeilen Julia

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  7. Ich finde es immer wieder wichtig, dieses sehr unangenehme, aber leider unausweichliche Thema anzusprechen. In meiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wurde ich immer wieder damit konfrontiert. Aus meiner Erfahrung weiß ich dass gerade der Schutz von Kindern und Jugendlichen sehr schwierig ist, weil zum einen die Kinder keine Vorschläge nutzen können was sie selbst dagegen tun können und zum anderen falsche Vorgehensweisen gegenüber den missbrauchenden Personen ein Schuss nach hinten sein können weil die sich oft mit allen Mitteln gegen den Vorwurf wehren. Dazu kommt noch dass viele Pädagogen-Kollegen und Kolleginnen lieber die Augen vor so etwas Schlimmen verschließen. Es ist unbedingt erforderlich sich bei Wahrnehmung von Missbrauch und Misshandlung von Kindern an entsprechende Stellen, z.B. Jugendämter zu wenden.

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  8. .. danke für diesen kritischen Artikel. Ich bin vor kurzem auch auf den Begriff "Spiritual Bypassing" gestoßen und hab mir das offensichtlich einzige deutsche eBook dazu (V.Rationi) gekauft. Es dürfte leider einiges darin wahr sein, auch wenn ich mein eigenes bisheriges Interesse an Spiritualität kritisch betrachte ...

    LG Annette

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