Samstag, 24. Mai 2025

Regenjazz



In der schwülen Stille zuerst ein leises Wisch-Wisch. Als würde ein Jazz-Percussionist mit den Besen über ein Becken streichen. Was für eine Musik soll das werden? Ein schwermütiger Blues, etwas Dunkles, das aus der Tiefe kommt und einen in die Tiefe lockt? Will man da hin, so antriebslos, wie einen die Hitze gemacht hat? Die Besen wischen schneller, ein Stick klopft auf etwas Tönernes (ein Instrument aus Afrika? der Südsee?), dann setzt eine gezupfte Saite ein, im Klang so etwas zwischen Gitarre und Cello. Eine straff gespannte Saite, sie wird doch hoffentlich nicht reißen? 

Der Percussionist legt Tempo zu, die anderen ziehen mit. Als Akzent schleicht sich leise im Hintergrund ein Patschen ein, als werde nasse Wäsche auf einem Stein ausgeschlagen. Ein Geräusch aus einer sehr fernen Zeit in einem sehr fernen Land. Der Wäscher prescht vor. Er patscht, der andere wischt, der dritte plingt. Aufregende Polyrhythmik entsteht, sie grooven sich ein, probieren ein Call and Response, einigen sich kurz auf eine Basis, aus der sie aber gleich wieder ausbrechen.

Und dann setzt endlich die Trommel ein wie eine Erlösung. Alles Bisherige war nur das Präludium, eine Vorbereitung auf das Eigentliche: den donnernden rasenden Wirbel. 

Das ist bester Free Jazz, von Könnern ausgeführt, und von den Menschen fällt im Handumdrehen die Trägheit der schwülen Tage ab. Sie eilen, sie rennen (regen: sich, Verb trans.; rege: sein, werden, Adj., Adv.). Bunte Schirme erblühen auf der Straße. Hunde zerren ihre Menschen hinter sich her, Radfahrer stülpen sich Plastiktüten auf den Kopf, Kinder hüpfen durch Pfützen. 

Der Wäscher aus dem fernen Land verabschiedet sich als Erster und sammelt seine Tücher ein. Der Trommler wischt zum Abschied noch mal lässig über das Becken. Und während die beiden davonbummeln, zupft und plingt der Saitenmusiker in allmählich versiegendem Rhythmus leise nach.

Stille.

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Montag, 19. Mai 2025

Gott spricht

 


God spoke today in flowers,

and I, who was waiting on words,

almost missed the conversation.

Ingrid Goff-Maidoff

 

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Sonntag, 11. Mai 2025

Wann endet ein Krieg?

 


 
Am 8. Mai hat die Welt das Ende des Zweiten Weltkriegs gefeiert. Aber ein Krieg endet nicht, indem offizielle Dokumente unterzeichnet werden, keine Panzer mehr fahren und keine Bomben mehr fallen. 

Als Russland in die Ukraine einmarschierte, las ich zu meiner Verwunderung etliche Kommentare von Schriftstellern im Alter so um die Fünfzig, die ratlos vor der Tatsache standen, dass während ihrer Lebenszeit quasi vor ihrer Haustür ein Krieg stattfand. Der Autor Daniel Schreiber sprach für viele, als er sagte, mit so etwas hätte seine Generation doch nicht gerechnet. Sie seien im Frieden aufgewachsen und jetzt wüssten sie nicht, wie sie gefühlsmäßig mit diesem Krieg umgehen sollten. 

Wo ist diese Generation - um jetzt mal pauschal von einer ganzen Generation zu sprechen - denn aufgewachsen? Auf einer Südsee-Insel? Und was haben ihre Eltern - die in meinem Alter sein dürften - ihnen über den Zweiten Weltkrieg erzählt? Gar nichts? Alles totgeschwiegen? Weil sie bei Kriegsende oder kurz danach geboren wurden, meinten sie, der Krieg ginge sie nichts an? Da irren sich diese Eltern, falls sie so denken sollten, gewaltig. Denn meine Generation trägt den Krieg in sich.

In gewisser Weise bin ich privilegiert: Ich konnte mich nie der Illusion hingeben, mit diesem Krieg nichts zu tun zu haben. Ich bin mit den Erzählungen meiner Mutter aufgewachsen, die bis zu ihrem letzten Augenblick mit dem, was sie erlebt hatte, nicht umgehen konnte. Sie brauchte eine Adressatin für ihre Verzweiflung, die Adressatin war ihre Tochter. Durch meine Mutter weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn die liebevoll eingerichtete Eigentumswohnung in Flammen aufgeht, der Lieblingsbruder auf der Krim "fällt" und was es heißt, im Straßengraben zu kauern, während über einem die Tiefflieger jaulen. Jedes Gewitter löste bei meiner Mutter eine helle Panik aus. Wir durchlebten zu zweit erneut einen Kampf auf Leben und Tod, während vor den Fenstern die Blitze zuckten und der Donner krachte. 

Wir Nachkriegskinder sind eine besondere Generation. Stille und tapfere Überlebende eines Krieges, den wir selbst gar nicht erlebt haben und der uns doch bis heute prägt. Wir tragen ein schweres Erbe, das uns von unseren Vorfahren aufgebürdet wurde, und das wir, Schritt für Schritt, langsam in und durch uns selbst lösen müssen. 
 
Thich Nhat Hanh, von dem die obige Kalligrafie stammt und der selbst Freunde und Angehörige im Vietnam-Krieg verloren hat, sagte, jeder Krieg habe Auswirkungen auf sieben folgende Generationen. Das steht übrigens auch in der Bibel. Vielleicht gehörst du zur zweiten oder dritten Generation, vielleicht sogar zur vierten. Wie wäre es, wenn du dich dem Gedanken öffnen würdest, dass du nichts "falsch gemacht" oder gar im Leben versagt hast, wenn du manchmal von unerklärlichen Ängsten überfallen wirst, einen tiefen Kummer ohne Anlass spürst oder Aggressionen in dir entdeckst, deren Ursprung du dir nicht erklären kannst? Wir alle haben teil an dem dunklen Urgrund eines kollektiven Unbewussten, in dem so viel Schmerz und Gewalt brodeln, die nach dem Krieg hastig mit wilder und falscher Lebenslust zugedeckt wurden.
 
Es ist an uns, die Verantwortung zu übernehmen und all diese Dunkelheit in uns und durch uns stellvertretend für die Gesellschaft zu lösen. Thich Nhat Hanh sprach immer davon, wir sollten unsere Gefühle "umarmen". Das ist ein weiser und liebevoller Rat.
 
Wir umarmen unsere Gefühle, damit die Welt ein wenig heller wird. Das macht uns sanft gegenüber uns selbst und gibt uns Mitgefühl für all jene, die mit ihrem eigenen Erbe, aus ihrem eigenen Land des Krieges zu uns kommen. Aus den Straßengräben, den Flammen, mit den gefallenen Brüdern im Herzen.
 
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Freitag, 2. Mai 2025

Das verborgene Licht

 

Kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 2016 habe ich dieses Buch schon einmal vorgestellt. Aber wie sehr hat sich doch die Welt verändert in dieser, geschichtlich gesehen, so kurzen Zeit. Ich finde, wir brauchen die Geschichten in "Das verborgene Licht" heute mehr denn je. Sie sind so unglaublich reich und wertvoll.

Die Weisheit von Frauen wurde im Buddhismus bis vor Kurzem ignoriert; viele Lehren und Praktiken entspringen einer männlichen Sicht. Die beiden Herausgeberinnen Zenshin Florence Caplow und Reigetsu Susan Moon haben deshalb historische Geschichten ausgegraben, in denen weise Frauen zu Wort kommen. Keine Priesterinnen oder hohen Würdenträgerinnen. Diese Frauen verkaufen vielmehr am Straßenrand Tee und Reiskuchen, erwachen beim Kochen eines Currys oder sind sogar Kurtisaninnen. Aber wehe, ein Mönch lässt sich in seiner Herablassung auf einen Disput mit ihnen ein. Mit einem Satz können sie ihm zur Erleuchtung verhelfen, und notfalls hauen sie ihm eins über den Schädel. Sie sind allesamt Außenseiterinnen, unabhängige Alleinlebende, herrlich unkonventionell und mit scharfem Blick und Verstand gesegnet.

Die Herausgeberinnen nennen diese kurzen Geschichten "Koans", und das sind sie auch. Keine Koans aus dem klassischen Kanon, sondern Alltags-Koans. Sie werden auf sehr persönliche Weise betrachtet von Lehrerinnen diverser buddhistischer Traditionen aus dem anglikanischen Raum und - dank der Verlegerin der deutschen Ausgabe, Ursula Richard - zusätzlich auch von sechzehn deutschsprachigen Lehrerinnen. Die Kommentare sind das Herzstück des Buches. Jede dieser historischen Geschichten wird als hilfreich für den ganz gewöhnlichen Alltag von Frauen dargestellt. Was nützen uns ellenlange Rezitationen? Wir möchten wissen: Was kann ich von dieser meiner Ahnin lernen für meine Arbeit im Büro, für den Frieden in meiner Familie, das Kochen und Putzen und Sorgen für andere? 

Ich durfte auch eine Auslegung beitragen und habe dieses Erleuchtungs-Gedicht der knorrigen alten Chen gewählt:  

Ganz oben auf den Berghängen sehe ich nur alte Holzfäller.
Jeder hat den Geist des Messers und der Axt.
Wie können sie die Bergblumen sehen,
gespiegelt im Wasser - leuchtend, rot?

Ich finde es ein wunderbares Gedicht, das unsere gegenwärtige Situation poetisch beleuchtet.

Das Buch ist ein Schatz fürs Leben, den man nie "ausliest". Auch Männer werden sehr von der Weisheit der Frauen profitieren. Die Herausgeberinnen schreiben in ihrem Vorwort: "Diese Geschichten sind als Spiegel für unser eigenes Leben und unsere eigene Praxis gedacht. Jede Geschichte ist ein Geschenk einer weiblichen Ahnin an Sie, gleichgültig, ob Sie nun ein Mann oder eine Frau sind." 

Florence Caplow, Susan Moon "Das verborgene Licht. 100 Geschichten erwachter Frauen aus 2500 Jahren, betrachtet von (Zen-)Frauen heute. Aus dem Englischen (sehr gut) übersetzt von Karin Petersen. edition steinrich, ISBN 978-3-942085-48-9.

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