An manchen Tagen, wenn mir was einfallen soll, aber nichts einfällt, weil irgendwie die Öffnung nach oben (durch die im Allgemeinen was hereinfällt) nicht aufgehen will, ziehe ich mir meine Tarnkleidung an, das Grau-Braun-Schlammfarbene, und gehe mit meiner Kamera in die Stadt. Ich setze mich unauffällig in eine Ecke, wo ich harmonisch mit Stein und Beton verschmelze und beglückend uninteressant werde. Alte mit Rucksack, die an einer Kamera rumfummelt. Wahrscheinlich keine Ahnung von Technik. Schnell weiter, bevor sie uns noch um Hilfe bittet. Und so hasten sie vorbei, die Menschen, die immer irgendwohin wollen, weil sie glauben, den nächsten Augenblick mit ihrem Rennen schneller zu erreichen. Dabei kommt er doch ganz von selbst.
Sehen, ohne gesehen zu werden - ein alter Kindertraum.
"Die Welt verschenkt sich an deine Wahrnehmung", sagt Mary Oliver in ihrem Gedicht "Wildgänse". Ich sitze also an meiner Mauer, und die Welt schüttet ihre Gaben aus. Meine Kamera kann gar nicht so viel aufnehmen, wie ihr angeboten wird. Heute zum Beispiel hat mir eine Taube etwas Wichtiges über das Thema Erwartung erzählt. Ich sage ja in meinen Retreats immer, wir sollen bitte keine Erwartungen haben, denn wer etwas erwartet, lebt in einer imaginären Zukunft (die es nicht gibt) und nicht in diesem Augenblick (der einzigen Zeit, die es gibt). Erwartung macht blind für das, was ist; wir sehen es nicht, weil wir es nicht erwarten. Soweit ein Exkurs zur Praxis.
Aber jetzt die Taube. Bemerkt, dass da drüben Pizza gegessen wird, und stellt sich mal höflich an. Könnte ja sein, dass aus Versehen ein Stückchen Hefeboden mit Salami runterfällt, oder auch nicht aus Versehen, sondern, man darf die Hoffnung nie aufgeben, aus Tierliebe. Fällt aber nichts. Die Taube rückt näher und lässt ein kehliges Guckguck hören. (Bitte zum Bild dazudenken.) Die Zwei am Tisch sind mit der Vernichtung einer Pizza befasst, sie sehen die Taube gar nicht. Die verfolgt jeden Bissen vom Teller bis in den Mund mit ruckendem Kopf; es sieht aus, als sähe sie einem Pingpongspiel zu. Eine Taube in höchst präsenter Erwartung, gespannt vom Schnabel bis zur Schwanzfeder. Die ist nicht blind für das, was ist. Die ist hellwach.
Und dann wendet sie sich ab, mit einer einzigen Bewegung. Gesellt sich zu einer andern, die gar nicht erst auf die Pizza gesetzt hat, sondern Streetfood wählt. Und ich da an der Mauer denke: Die Erwartung ist nicht das Problem. Wir müssten nur das vergeblich Erhoffte im Bruchteil einer Sekunde aus unserem Geist entlassen können, ohne Bedauern, ohne Vergleich, ohne zurückzuschauen. Aber in unseren menschlichen Köpfen hat es sich inzwischen vermutlich verselbstständigt, hat Formen, Geruch und Geschmack angenommen ("Mit Salami! Und Peperoni! Und Mozzarella!").
Also bleibe ich vielleicht doch bei meiner Warnung vor der Erwartung.