Dienstag, 11. Dezember 2018

Wir sind ganz Ohr


... und dann kamen sie angaloppiert, zwölf Islandpferde, und die Nüstern bliesen warm auf meine Hand und die Öhrchen spielten vor und zurück, wenn ich leise schnalzte, und sie wollten meine Tasche untersuchen und überhaupt mal wissen, wer da auf einmal vor ihrer Weide stand ...
 

Vor ein paar Wochen im Treppenhaus bei Freunden. Zwei sind da unterschiedlicher Meinung, das tun sie kund. Sie beginnt in rasender Empörung, er fällt ihr ins Wort. Sie schweigt nicht etwa, um zu hören, was er sagt - sie steigert ihre Lautstärke. Er lässt sich das nicht bieten und steigert ebenfalls. Er hat ein Organ, das Säle füllen kann. Pech für sie. Sie hört sich nicht mehr, also holt sie alles aus ihren Lungen heraus. Er hält mit; er hat noch Steigerungsstufen. Jetzt haben beide ihre äußersten Möglichkeiten der Lautstärke erreicht, sie preschen blind und taub gleichzeitig durch ihr Gebrüll, das eine ersehnte Ziel vor Augen: den Anderen endlich zum Verstummen zu bringen und selber gehört zu werden.

Worum es ging? Keine Ahnung. Ich meine, das Wort "Waschbecken" gehört zu haben.

In der achten Achtsamkeitsübung des Ordens Intersein von Thich Nhat Hanh heißt es: "Wir sind entschlossen, tiefes Zuhören zu erlernen, ohne zu bewerten oder zu reagieren ..." Es ist immer gut, zu etwas entschlossen zu sein, aber mir ist diese Formulierung zu streng. Kann das tiefe Zuhören nicht lustvoll sein, ein spielerischer Zugang zur Welt, ein Glückserlebnis? Ist es nicht so, dass wir das schon längst können und nur einen kleinen Hinweis brauchen, um uns daran zu erinnern?

Im Deutschen und Englischen gibt es die schöne Redewendung "Ich bin ganz Ohr". Wenn ich ganz Ohr bin, kann ich nicht brüllen, sonst würde ich auf der Stelle ertauben. Ich kann auch nicht gleichzeitig ganz Ohr sein und das Gehörte bewerten, beurteilen, einordnen, verwerfen. Oder mir überlegen, wie ich das, was ich gerade höre, für meine Zwecke nutzen kann. Welche Vorteile es mir bringen könnte, oder welche Nachteile. Ganz Ohr zu sein heißt: dem Leben zu lauschen, während es sich unablässig entfaltet, außerhalb von mir und in mir.

Wann hören wir tief zu? Wenn unser Interesse geweckt ist. Wir wollen etwas oder jemanden wirklich kennenlernen. Wir lauschen dem Klang, den ein anderer aussendet, auch wenn er schweigt - und der harmonischen oder dissonanten Vielstimmigkeit unserer Gedanken und Gefühle, die uns etwas mitteilen möchten. Dafür müssen wir uns nicht anstrengen und kein Gelübde ablegen.

Wir wollen einfach nur wissen, was da in uns los ist. Und wer das ist, der auf einmal vor unserer Weide steht.


4 Kommentare:

  1. Vor vielen Jahren kam eine Mitarbeiterin zu mir ins Büro und forderte, dass ich sie als Redakteurin anerkenne. Als solche arbeitete sie zwar, hatte aber nicht die notwendige berufliche Qualifikation. Ich begründete ihr, weshalb ich ihr diesen Status nicht geben könnte. Am nächsten Tag kam sie wieder mit der gleichen Forderung. Dann noch einmal 2 Tage später. Ich hatte mich inzwischen erkundigt, wie sie die berufliche Qualifikation erreichen konnte. Das interessierte sie aber nicht, sondern sie blaffte mich an: „Das schaffe ich doch nicht mehr in meinem Leben“. Ich war völlig überrascht, denn sie war eine sehr aufgeweckte junge Frau. Ein paar Tage später meldete sie sich krank und verstarb ein halbes Jahr später an einem Gehirntumor.
    Ein Kollege von mir, der sie in den letzten Stunden ihres Lebens begleitete, erzählte mir nach der Beerdigung, dass sie bis zum Schluss darunter litt, als Redaktionsassistentin zu sterben und nicht als Redakteurin. Ich ging völlig verstört und traurig nach Hause und malte eine Urkunde für sie als Redakteurin „für N., die beste Redakteurin auf der ganzen Welt“. Ich malte den ganzen Abend lang. Mir wurde schmerzlich bewusst, ich ihr diese „Urkunde“ schon ein halbes Jahr früher hätte geben müssen.
    Was hatte nicht funktioniert? Das tiefe Zuhören bei der Aussage, das schaffe ich doch nicht mehr in meinem Leben. Ich war auf der formalen Ebene des Informationsaustauschs geblieben, während N. mir auch auf einer tieferen Kommunikationsebene Informationen zu ihrem bevorstehenden Tod mitgeteilt hat. Vermutlich möchte Thich Nhat Hanh auf diese tiefere Kommunikationsebene aufmerksam machen. Die Antennen dafür haben wir, aber wir müssen auch üben, damit wir rechtzeitig diese Ebene wahrnehmen können. Und manchmal müssen wir auch darauf reagieren. Aus meiner Sicht heißt das aber nicht, dass ich mir auf der normalen Informationsebene Monologe und endlose Geschichten anhören oder mich auf Streitgespräche einlassen muss.
    Wichtiges Thema, denn gerade in der emotional aufgeladenen Weihnachteszeit gehen viel Gespräche daneben. Simon

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    1. Danke,lieber Simon, dass Du das mit uns teilst. Deine Mitarbeiterin war noch jung, verstört von ihrer Krankheit und hatte nicht das, was wir als "Praxis" bezeichnen. Deshalb ist die Art, in der sie versucht hat, sich mitzuteilen, verständlich. Dennoch versteckt sich in Deiner Geschichte noch eine andere wichtige Übung, die Frage: "Wie spreche ich mit dem Anderen, so dass er mich und mein Anliegen versteht?" Es gibt verschlossene Ohren, aber auch verschlossene Zungen. Ich weiß von mir selbst, wie wichtig Klarheit im Ausdruck ist, denn ich neige zu Andeutungen, die an meinem Gegenüber oft vorüberfliegen. Der Andere reagiert nicht, ich bin enttäuscht und meine, mich doch artikuliert zu haben.

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  2. ....und doch..wie schön ist es "nur" mit Andeutungen erkannt und gesehen zu werden. Denn das schafft Nähe.
    Eine schöne Zeit Gitti

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    1. Liebe Gitti, mir geht es ja auch so. Aber Männer und Frauen haben unterschiedliche Arten zu kommunizieren, das ist auch so ein Thema, über das man mal sprechen könnte.

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