Foto: Dr. Peter Zürn |
Ich begegnete ihm Anfang der 1980er Jahre im Kloster St. Franziskus. Er war damals schon hochbetagt, und tatsächlich war es eines der letzten sesshin, die er in Deutschland geben sollte. In meinem Buch „Wunderbare Unvollkommenheit“ habe ich einen denkwürdigen Moment geschildert: „Ich traf ihn eines Nachts im Flur. Es war nach der letzten Sitzperiode, die anderen waren schon schlafen gegangen. Roshi betrachtete eine Topfpflanze, die auf dem Fensterbrett stand. Behutsam hielt er eine unscheinbare kleine Blüte in der offenen Hand und neigte sich darüber, als wäre es eine Kostbarkeit. Als er mich sah, lächelte er und deutete auf die Blüte. Ein kalter Klosterflur im Neonlicht, der Geruch nach Kohl, draußen der Winterwind, ein kleiner alter Mann in einem schwarzen Kimono und eine winzige rosa Blüte. Und ich sah, dass dieser Augenblick das Leben war. Vollkommen, nicht zu verbessern. Ein Wunder.“
Nun war Nagaya Roshi ja auch Kalligraph, und am letzten Tag
durfte sich jeder Teilnehmer von ihm eine Kalligraphie wünschen. Roshi hatte in
den 1930er Jahren in Marburg Philosophie studiert und sprach sehr gut Deutsch,
er hörte aber nicht mehr gut. Deshalb saß neben ihm ein Pater des Hauses und
wiederholte die Wünsche der Teilnehmer direkt in Roshis Ohr. Ich hatte mir die Kalligraphie
„Licht“ gewünscht, aber auf dem Weg vom Mund des Paters in Roshis Ohr verwandelte sich das Wort, und ich bekam statt „Licht“ ein
„Mu“, das „Nichts“.
Der Pater hatte das Missverständnis natürlich bemerkt und sprach mich hinterher an. Ich war damals noch so dumm, ein klein wenig enttäuscht zu sein, weil ich nicht bekommen hatte, was ich hatte haben wollen. Leider sagte ich das auch. Das hätte ich nicht tun sollen, denn der Pater erzählte es Roshi, und dieser – er hatte seine Koffer längst gepackt, das Auto zum Flughafen wartete – bestellte mich auf der Stelle in sein Zimmer, entschuldigte sich geradezu bestürzt für das Missverständnis und wickelte die Pinsel wieder aus der Bambusstäbchenmatte. Er fand aber das Reispapier nicht, und weil die Zeit drängte, nahm er ein Blatt kariertes Papier, das herumlag, und schrieb mir mein „Licht“.
Das „Licht“ ist dann bei einem meiner Umzüge verloren
gegangen, aber das „Mu“ ist mir geblieben – als Kalligraphie und als Praxis,
denn es wurde anschließend bei einem anderen Lehrer mein erstes Koan.
Nagaya Roshi legte viel Wert auf eine genaue Sitzhaltung,
die er auch entschieden zu korrigieren pflegte. Als jemand einmal klagte, der
Meister sei so streng, sagte er den denkwürdigen Satz: „Ich bin nicht streng,
ich bin genau.“ Dieser Satz wurde ein Leitspruch meines Lebens und meiner
Arbeit. Tetsuo bedeutet übrigens „der
alte Weise“. Ich werde diesen zauberhaften und absolut klaren Meister nie
vergessen.