Dienstag, 11. Februar 2014

Begegnung mit Tetsuo Kiichi Nagaya Roshi

Foto: Dr. Peter Zürn

Ich begegnete ihm Anfang der 1980er Jahre im Kloster St. Franziskus. Er war damals schon hochbetagt, und tatsächlich war es eines der letzten sesshin, die er in Deutschland geben sollte. In meinem Buch „Wunderbare Unvollkommenheit“ habe ich einen denkwürdigen Moment geschildert: „Ich traf ihn eines Nachts im Flur. Es war nach der letzten Sitzperiode, die anderen waren schon schlafen gegangen. Roshi betrachtete  eine Topfpflanze, die auf dem Fensterbrett stand. Behutsam hielt er eine unscheinbare kleine Blüte in der offenen Hand und neigte sich darüber, als wäre es eine Kostbarkeit. Als er mich sah, lächelte er und deutete auf die Blüte. Ein kalter Klosterflur im Neonlicht, der Geruch nach Kohl, draußen der Winterwind, ein kleiner alter Mann in einem schwarzen Kimono und eine winzige rosa Blüte. Und ich sah, dass dieser Augenblick das Leben war. Vollkommen, nicht zu verbessern. Ein Wunder.“

Nun war Nagaya Roshi ja auch Kalligraph, und am letzten Tag durfte sich jeder Teilnehmer von ihm eine Kalligraphie wünschen. Roshi hatte in den 1930er Jahren in Marburg Philosophie studiert und sprach sehr gut Deutsch, er hörte aber nicht mehr gut. Deshalb saß neben ihm ein Pater des Hauses und wiederholte die Wünsche der Teilnehmer direkt in Roshis Ohr. Ich hatte mir die Kalligraphie „Licht“ gewünscht, aber auf dem Weg vom Mund des Paters in Roshis Ohr verwandelte sich das Wort, und ich bekam statt „Licht“ ein „Mu“, das „Nichts“.


Der Pater hatte das Missverständnis natürlich bemerkt und sprach mich hinterher an. Ich war damals noch so dumm, ein klein wenig enttäuscht zu sein, weil ich nicht bekommen hatte, was ich hatte haben wollen. Leider sagte ich das auch. Das hätte ich nicht tun sollen, denn der Pater erzählte es Roshi, und dieser – er hatte seine Koffer längst gepackt, das Auto zum Flughafen wartete – bestellte mich auf der Stelle in sein Zimmer, entschuldigte sich geradezu bestürzt für das Missverständnis und wickelte die Pinsel wieder aus der Bambusstäbchenmatte. Er fand aber das Reispapier nicht, und weil die Zeit drängte, nahm er ein Blatt kariertes Papier, das herumlag, und schrieb mir mein „Licht“.

Das „Licht“ ist dann bei einem meiner Umzüge verloren gegangen, aber das „Mu“ ist mir geblieben – als Kalligraphie und als Praxis, denn es wurde anschließend bei einem anderen Lehrer mein erstes Koan.

Nagaya Roshi legte viel Wert auf eine genaue Sitzhaltung, die er auch entschieden zu korrigieren pflegte. Als jemand einmal klagte, der Meister sei so streng, sagte er den denkwürdigen Satz: „Ich bin nicht streng, ich bin genau.“ Dieser Satz wurde ein Leitspruch meines Lebens und meiner Arbeit. Tetsuo bedeutet übrigens „der alte Weise“. Ich werde diesen zauberhaften und absolut klaren Meister nie vergessen. 

Freitag, 7. Februar 2014

"Das Zen der Kreativität"


Als ich mit der Zen-Praxis begann, war ich bereits Schriftstellerin mit vier veröffentlichten Büchern. Auf dem Kissen fühlte ich mich sofort zu Hause. Ich kannte das Eintauchen in einen geistigen Raum jenseits des gewohnten und die völlige Abwesenheit von Urteil, Meinung, Befürchtung und Hoffnung – ich kannte das alles aus meiner Schreib-Praxis. Für mich waren von Anfang an Zen und Kunst innige Geschwister: das Eine unterstützte das Andere.

Zen-Meister John Daido Loori war, als er mit der Zen-Praxis begann, Fotograf. Für ihn waren Zen und Kunst enge Geschwister: „Praxis – sei es Zen oder Kunst – macht das Unsichtbare sichtbar“, sagte er. „Unsere Kunst kommuniziert immer etwas, und wir müssen uns dieser Aussage sehr bewusst sein.“ Und: „Wenn die Energie frei fließt, malt der Pinsel von allein, fotografiert die Kamera, formt sich die Skulptur, schreiben sich die Worte, der Tanz tanzt. Der Künstler, das Kunstobjekt und der Ausdruck verschmelzen in einem einzigen Prozess, in dem es weder Nachdenken noch Urteilen gibt, nur Kunst, die sich manifestiert.“

Sehr schön seine Begegnungen mit dem indianischen Fotografen Minor White, der ihn sehen lehrte und ihm beibrachte, dass nicht er sich sein Motiv sucht, sondern das Motiv ihn: „Spirit always stands still long enough for the photographer It has chosen."

In der Sung-Dynastie in China gab es Maler-Priester und Dichter-Priester. Wo sind sie heute, die Priester, die gleichzeitig Künstler sind? Und die Künstler, die sich nicht scheuen, in ihrer Arbeit eine Botschaft und eine Ethik zu formulieren, das aber auf zutiefst künstlerische Weise, jenseits jeder etablierten Religion oder Philosophie? John Daido Loori war einer von ihnen, und er ist vor zwei Jahren verstorben. Aber sein Buch wird bleiben. 

John Daido Loori "Das Zen der Kreativität", Theseus Verlag.