Donnerstag, 29. April 2021

Wo ich lebe

 

Ich lebe dort, wo die Dörfer zwischen den Feldern liegen, Kirchtürme schon von Weitem grüßen, der Fischreiher durchs flache Flussufer watet, Schwalben unter den Dächern nisten und Störche ganzjährig auf den Kirchtürmen - warum sollen sie in den Süden fliegen, bei uns ist es schön.

Ich lebe dort, wo die Berge am Horizont im Blau verschwimmen, wo die Luft im Sommer vor Hitze flimmert, der Taghimmel hoch und weit ist und der klare Nachthimmel voller Sterne.

Der Wald ist nah, und nah ist der kleine Hofladen mit bestem Demeter-Gemüse und -Obst, das nur halb so viel kostet wie im Bioladen. 

Ich lebe dort, wo ich keinen Wecker brauche, weil die Haus-Spatzen meinen Balkon als Restaurant ansehen und ihr Frühstück (eimerweise Sonnenblumenkerne) kurz nach Sonnenaufgang einnehmen, inzwischen also so gegen sechs, wobei sie sich lautstark unterhalten (müssen mal ein Retreat machen bei mir und lernen, beim Essen zu schweigen). 

Ich lebe dort, wo ich aufatmen kann. Wo mich die innere Stille nicht verlässt, weil es im Außen nichts gibt, was sie stören könnte. Ich lebe dort, wo die Zeit eine Flaneurin ist, an den Dingen vorbeischlendert und sie sein lässt, wo und wie sie gerade sind. Ich lebe dort, wo nichts los ist. Wo nichts passiert.

Ich lebe in der wunderbaren, großartigen Ereignislosigkeit, in der nichts, absolut nichts, fehlt.


Sonntag, 25. April 2021

Lockdownmüdigkeit und was wirklich wichtig ist

 

Ein paar Dutzend Schauspieler haben auf Instagram unter dem Hashtag #allesdichtmachen satirische Kurzvideos gepostet, in denen sie sich über die Lockdownmaßnahmen der Regierung mokieren. Jetzt werden sie, wie das bei zugespitzten Meinungsäußerungen so üblich ist, von der einen Seite bejubelt (da stehen, was sie vorher hätten bedenken können, zum Beispiel die Afd und die Querdenker), von der anderen Seite mit Empörung gegeißelt. Die Schauspieler waren überrascht von der Wucht der Reaktionen; einige entschuldigten sich dafür, möglicherweise die Opfer der Pandemie und ihre Angehörigen verhöhnt zu haben und zogen ihre Beiträge zurück, woraufhin ihnen Feigheit vorgeworfen wurde, und jetzt schaukelt sich das Ganze hoch zu der Frage, ob man in Deutschland noch eine Meinung äußern dürfe, die nicht jener der der Regierung entspricht.

Ein medial hochgeputschtes Riesentheater um kleine Sketche, die mit einem ernsten Thema selbstverliebt herumspielen. Man kann das Krisenmanagement einer Regierung, der außer Zumachen nichts einfällt, durchaus kritisch sehen, aber das Schließen von Theatern, Kinos, Fußballstadien und Kneipen hat einen Grund. Falls man prominente Schauspieler daran erinnern muss: der Grund nennt sich Corona.

Ich habe mir die Dokumentation des rbb über die Covid-Station der Charité angesehen. Vier Folgen, knallharte Realität. Menschen, die künstlich beatmet werden. Ärzte, die Fehler machen. Pfleger, die am Rand der Kräfte sind. Ich empfehle diese Filme. Man muss sie aushalten. Ist nicht leicht. Aber wer sagt, dass Leben leicht sein muss. Der Tod gehört ja immer dazu. Vielleicht klären sich ein paar Fragen oder Lustlosigkeiten oder Bedenken - zum Lockdown, zur Impfung, zu geschlossenen Theatern -, wenn man sie gesehen hat.

Hier entlang:

https://www.ardmediathek.de/sendung/charite-intensiv/staffel-1/Y3JpZDovL3JiYi1vbmxpbmUuZGUvY2hhcml0ZS1pbnRlbnNpdg/1/

 

Montag, 19. April 2021

"Ich bin zu Hause"

 

In der Online-Meditation gestern haben wir uns mit dem Gatha von Thay befasst, das ihr sicher alle kennt: Ich bin angekommen, ich bin zu Hause.

Das sich fremd Fühlen ist eine Urerfahrung des Menschen. Als ich 1992 das erste Mal in Plum Village war, lebten dort noch zahlreiche Boat People im Exil. Sie hatten sich ein kleines Vietnam erschaffen, mit ihren gewohnten Bräuchen, Ritualen und einem Garten, in dem sie die Kräuter und Gemüse ihrer Heimat angebaut hatten. Sie blieben mehr oder weniger unter sich, und wenn ich mit jemandem ins Gespräch kam, hörte ich von Sehnsucht nach Vietnam und tiefer Trauer. Auch Thay selbst thematisierte hin und wieder seinen Schmerz. Die Atmosphäre, die ich damals dort spürte, kannte ich, denn ich bin mit einer Mutter aufgewachsen, die aus Frankfurt an der Oder geflohen war, nachdem Bomben ihre schöne Eigentumswohnung vernichtet hatten. Sie landete in Bayern, wo alles für sie fremd war: der Dialekt, die Religion, das Essen, die Art der Menschen. Sie lebte dort bis zum Tod, aber es wurde nicht ihr Zuhause. Man kann sagen: Sie ist an ihrem Ort nie angekommen. 

Rilke schenkt uns in seinem Gedicht "An Hölderlin" ein Bild für das Gefühl des Unbehaustseins: Ungeborgen ausgesetzt auf den Bergen des Herzens, Steingrund unter den Händen.

Das Christentum hat seine Antwort auf das Unbehaustsein. Es gibt ein Kirchenlied von Paul Gerhardt: "Wir sind nur Gast auf Erden". Dort, wo man Gast ist, ist man nicht zu Hause. Unser Zuhause, sagt das Christentum, erwarte uns nach dem Tod: der "Himmel", wie immer wir ihn uns vorstellen. Aber das ist nicht die Auffassung des Zen, für das es kein "Jenseits" gibt. Oder, besser gesagt: Das Jenseits ist im Hier und Jetzt enthalten.

Um das zu verstehen, müssen wir uns von der Vorstellung des Zuhauses als einem Ort verabschieden.

"Listen, listen, this wonderful sound brings me back to my true home", heißt es in der Glocken-Meditation der Intersein-Schule. Was ist das wahre Zuhause, in das wir auf der Frequenz des Glockenklangs durch bloßes Lauschen eintreten können? Wir sind uns zumeist nur unseres persönlichen Geistes bewusst, der uns hilft, unseren Alltag zu meistern durch Planen, Erinnern, Urteilen, Abwägen, Entscheiden. Dieser Geist ist hilfreich, aber sehr begrenzt; er gehört der historischen Dimension an. Gleichzeitig jedoch ist er Teil des großen universellen Geistes und kann ihn berühren.

Sobald wir in den universellen Geistes eintreten - vielleicht, indem wir einer Glocke oder einem Vogel lauschen, einen Sonnenuntergang betrachten, einer Sinfonie zuhören -, sind wir nicht mehr begrenzt auf unser persönliches Schicksal. Wir spüren Weite um uns und fühlen uns verbunden mit allem, was ist. Wann aber tun wir das, wenn nicht immer nur im Jetzt? Es gibt nur diesen Augenblick, es kann nie eine andere Zeit geben. Deshalb kommen wir in jedem Augenblick an (in welcher Zeit sonst könnten wir ankommen?), deshalb sind wir in diesem Augenblick (wo sonst?) zu Hause. Unser wahres Zuhause ist kein Ort, sondern dieser Augenblick.

Vielleicht erkennen wir dann, dass das scheinbar Verlorene aufgehoben ist im Ganzen, dass aus ihm Neues entstanden ist wie aus einer abgestorbenen Pflanze. Und wir sehen, dass wir nicht alleine sind, wir bewegen uns in einer Gemeinschaft von Menschen, die, wie wir, das Gefühl des Fremdseins kennen und es, einfach durch ihre Anwesenheit, in ein Gefühl der Verbundenheit verwandeln. Und so endet das Gedicht von Rilke auch mit diesem Bild: "... immer wieder gehn wir zu zweien hinaus unter die alten Bäume, lagern uns immer wieder zwischen die Blumen, gegenüber dem Himmel."

 

Montag, 12. April 2021

Geistersuppe


Landregen

Weiße Geister kochen Sauerampfersuppen an den Teichen.
Überm Feld bleibt lang ein Flüstern stehn,
die Minuten zögern zu vergehn,
und aus Ziegeldächern ist ein Wunsch zu lesen wie aus Zeichen.
 
Träge lehnt der Wald am Himmel, beide tauschen Dunkelheiten,
es versinkt im Grab ein Namensstein,
eine Botschaft schreibt im Kies sich ein,
in den langen Blick der Katze tritt ein Traum aus frühen Zeiten.
 
Leise splittern blinde alte Spiegel auf den Wassergraben,
aus dem Grund steigt die versunkne Stadt,
vom Kalender fällt ein Juniblatt,
wer jetzt Glocken läuter hört, der wird bald viel zu denken haben.
 
Margrit Irgang
 


Aus: Margrit Irgang "Die erste und einzige Geschichte vom Gedankenland", Oetinger Verlag.

Nur noch erhältlich antiquarisch oder bei der Autorin.