Mittwoch, 10. Dezember 2025

Das Zuwenig

 

Meine Balkonbepflanzung. Hat sich selbst dort hingesetzt. (Bisschen wenig für vierzehn Quadratmeter.)

 

Ich denke in der Zeit der Gaben und üppigen Büfetts über das Zuwenig nach. Nicht über den Mangel auf irgendeinem Gebiet, der dringend behoben werden muss. Sondern über das Zuwenig, das in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen ist.

Vor ein paar Jahren kam ich in den Keller und sah, dass allen Mietern unaufgefordert digitale Stromzähler eingebaut worden waren. Nur mir nicht. Ich rief den örtlichen Netzbetreiber an und erkundigte mich nach dem Grund. Ich erfuhr, dass die Zähler nach dem Stromverbrauch eingebaut werden, in der Reihenfolge von viel nach wenig. Die Letzten werden so ungefähr 2032 drankommen. Die Mitarbeiterin am Telefon kühl: "Sie verbrauchen zu wenig Strom."

Bei der Inspektion vor dem TÜV entdeckte meine Werkstatt, dass meine Bremsen durchgerostet waren. Es wurde sehr teuer. Ich fragte, wie das passieren konnte. Die Mitarbeiterin bedauernd: "Bremsen müssen gebremst werden. Und Sie fahren zu wenig."

Ich habe mir einen Füllfederhalter gekauft. Ich mag seine Sensibilität, das feine Gleiten auf dem Papier, und man muss sehr viel aufmerksamer und langsamer schreiben als mit einem Filzstift. Aber mein Füller verstopfte dauernd und kratzte, anstatt zu gleiten. Ich brachte ihn in den Laden zurück und sagte, ich sei mit ihm nicht glücklich. Die Verkäuferin probierte ihn aus und fand, er sei noch gar nicht richtig eingeschrieben: "Sie schreiben zu wenig."

Im Supermarkt stehe ich ratlos vor den Riesenpackungen, die relativ gesehen viel billiger sind als die kleinen. Im Kühlschrank welkt und schrumpelt regelmäßig etwas vor sich hin, das ich notgedrungen mitnehmen musste, weil es in kleinerer Form nicht zu haben war. Ich bin dankbar für die Erfindung, Reste durch Einfrieren in einem halbwegs essbaren Zustand zu erhalten, zur späteren Verwendung. Mein Tiefkühlfach aber ist voll. Neulich verlangte ich an der Käsetheke drei Schreiben Emmentaler. Die Verkäuferin sah mich an und wiederholte ungläubig: "Drei?" (Ich esse zu wenig.)

Vor ein paar Monaten brauchte ich kurzzeitig Ibuprofen. Ich bat den Orthopäden um die Verschreibung einer kleinen Packung der geringsten Dosis, so 20 Stück. Er sagte, er würde mir die Großpackung mit 60 Stück aufschreiben, denn die sei billiger als die kleine. Nicht relativ, sondern ganz konkret. Ich brauchte fünf Stück, die ich auch noch halbierte. Der Rest altert im Schrank vor sich hin.  

Unsere Gesellschaft ist auf das Viel eingerichtet, und mein Zuwenig ragt in die allgemeine Überfülle wie ein Hindernis, wird selten begriffen und kaum unterstützt. Die Dinge müssen permanent gebraucht und die Lebensmittel schnell verbraucht werden. 

Der Buddhismus kennt die "hungrigen Geister", die einen aufgeblähten Kopf und einen ganz schmalen Hals haben, der kaum Nahrung hindurchlässt. Deshalb schreien sie pausenlos nach dem Mehr, und das Zuwenig ist ein solch hungriger Geist. Es sitzt, unsichtbar, klein und (denke ich mir) grau in unseren Köpfen und flüstert heiser: Nimm die XXL-Packung, sicher ist sicher. Sei eine gute Verbraucherin, nimm das Sonderangebot mit, es ist extra für dich dort aufgebaut. Und gebrauche die so zahlreich, weil günstig, erworbenen Dinge unablässig, halte sie an dein Ohr, nimm sie in die Hand, schiebe sie vor dir her. Schneller! Öfter! Mehr!

Im Weihnachtsstress stolpern die Menschen an mir vorbei, pralle Tüten in den Händen. Vielleicht sind die Tüten so voll, weil sie automatisch und aus Gewohnheit die Doppel- und Dreifachpackungen genommen und sich ausgerechnet haben, wie viel man da doch spart gegenüber der Einzelpackung, die sie eigentlich brauchen. Ich stehe an der Straßenecke und greife besinnlich in meine Tüte mit den gebrannten Mandeln (100 Gramm, die klassischen). Ein Mehr an Konsum will mir zur Zeit nicht gelingen.

(Ich darf nur in keine Buchhandlung gehen.) 

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Dienstag, 2. Dezember 2025

Rilke als Lebenslehrer


 


Am Donnerstag, 4. Dezember, wäre Rilke 150 Jahre alt geworden. Kürzlich sagte mir jemand, "den kann man doch heute nicht mehr lesen". Falsch, ganz falsch. Rilke ist zeitlos und hat uns sehr viel zu sagen. Schon mal Briefe von ihm gelesen?

Rilke hat gewissenhaft jeden an ihn gerichteten Brief beantwortet, und das nicht mit ein paar Zeilen, nein, er hat Seiten gefüllt. Diese Briefe sind von einer Einfühlung in den Adressaten, die ihresgleichen sucht. In einem Brief an Magda von Hattingberg schrieb er einmal darüber, welches Glück es ihm bedeute, einen Hund im Vorübergehen "einzusehn (ich meine nicht durchschauen, was doch nur so eine Art menschlicher Gymnastik ist und wo man auch gleich wieder aus der anderen Seite herauskommt aus dem Hund, ihn gleichsam nur als ein Fenster betrachtend ín das hinter ihm liegende Menschliche) - sondern sich einzulassen in den Hund genau in seine Mitte, dorthin, von wo aus er Hund ist". 

Und so lässt er sich auch ein in (und nicht: auf!) jeden Menschen, dem er schreibt, und begibt sich dorthin, wo dieser Mensch ganz und gar er selbst ist: direkt in seine Mitte. Von diesem Innen-Ort aus wird er für seine Briefpartner zum Lebenslehrer, denn er sieht mit ihren Augen und gibt dem Sprache, was sie vielleicht ahnen, aber selbst nicht ausdrücken können.

Ich möchte euch heute meine Lieblings-Briefe empfehlen, die an den jungen Franz Xaver Kappus, der sich an Rilke gewandt hatte, während er, der doch Dichter sein wollte, auf der Militärakademie verzweifelte, wie einst der Dichter selbst. Und so wechseln sie im Lauf von zwei Jahren ein paar wenige Briefe, aber jeder Satz darin ist tief, nachdenklich, gehaltvoll. Kappus hat sie später unter dem Titel "Briefe an einen jungen Dichter" veröffentlicht.

Weil Rilke die Menschen eben von innen "einsieht", bestätigt er jedes ihrer Gefühle, jede Regung, denn er lebt sie ja mit. Der junge Kappus ist einsam und traurig, und das ist für Rilke völlig in Ordnung: "Es gibt nur eine Einsamkeit, und die ist groß und ist nicht leicht zu tragen, und es kommen fast allen die Stunden, da sie sie gerne vertauschen möchten gegen irgendeine noch so banale und billige Gemeinsamkeit, gegen den Schein einer geringen Übereinstimmung mit dem Nächstbesten, mit dem Unwürdigsten ...

Und warum nicht traurig sein, wenn man doch ein Dichter ist? "Gefährlich und schlecht sind nur jene Traurigkeiten, die man unter die Leute trägt, um sie zu übertönen."

Wie wünschte ich mir, heute solche Briefe zu bekommen! Mit dem Füllfederhalter geschrieben auf dickes schweres Papier. Von jemandem, der mich nicht analysiert und mir keine Rat-Schläge erteilt, sondern mit mir gleichschwingt. Denn wie Rilke bin ich davon überzeugt, dass wir alle Antworten, die wir brauchen, in uns selbst finden: "Man wird auch allmählich erkennen lernen, dass das, was wir Schicksal nennen, aus den Menschen heraustritt, nicht von außer her in sie hinein."

Insel war der Verlag von Rilke, und so habe ich euch hier das kleine Insel-Bändchen verlinkt. Es kostet 10 Euro. Es gibt auch noch andere Ausgaben davon, wie sorgfältig sie gedruckt sind, weiß ich nicht. Wenn ich nur ein Buch auf die berühmte einsame Insel mitnehmen dürfte, es wäre wahrscheinlich dieses.

(Werbung) Wenn ihr online bestellen wollt, empfehle ich euch den gemeinwohlbilanzierten sozialen Buchversand Buch7, der soziale, kulturelle und ökologische Projekte unterstützt. Ihr werdet schnell und versandkostenfrei beliefert, und ich erhalte eine (sehr kleine) Provision dafür. Rilke bestellen hier (klick).

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Montag, 24. November 2025

Yellow Week


 

Bei mir gibt es keine "Black Week". Ich habe nichts zu verkaufen, es gibt keine Sonderangebote und deshalb auch nichts zu sparen, denn alles hier ist kostenlos. 

Bei mir gibt es die "Yellow Week". Gelb ist die Farbe des Lichts, das wir gerade jetzt dringend brauchen - in der Novemberdüsternis, in der Gesellschaft, in der Politik, in uns selbst.

Gelb ist die Farbe des Löwenzahns. Gelb ist auch die Farbe des Podcast "Let's Talk Why", für den ich meine Geschichte "Überblick" gelesen habe. Sie ist in meinem kleinen Foto-Geschichten-Band "secret moments" enthalten und dauert 2 Minuten. Eine Geschichte, in der nicht schwarz gesehen wird. Sondern ein wenig Licht strahlt, in einer kleinen Spalte im Gestein.

Wer die Videos nicht angezeigt bekommt, klickt hier: https://www.youtube.com/watch?v=ULtwYsQ67ZQ 

Wie gesagt: Niemand muss dafür was zahlen. Aber jede/r darf! 😊

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Sonntag, 16. November 2025

Die Problem-Sammlerin


 

Es gibt Menschen, die Tiffany-Lampen und Gemälde sammeln. Ich sammle auch, aber mein Sammel-Gebiet ist banal, und neue Stücke für meine Sammlung finde ich an jeder Straßenecke.

Ich sammle Probleme.

Um sie zu ordnen, habe ich sie in Kategorien unterteilt. Sehr umfangreich ist die Kategorie "Wesen". Es begann mit dem "Problem-Bär Bruno", ihr erinnert euch? Im Mai 2006 tauchte zum ersten Mal seit 170 Jahren wieder ein Braunbär in Bayern auf. Große Aufregung. Er wurde sogar in der Nähe von Siedlungen gesichtet und nahm in Grainau einen Hühnerstall auseinander. Als "Problem-Bär" beherrschte er wochenlang die Schlagzeilen, bis er auf Weisung des bayerischen Umwelt-Ministeriums erschossen wurde.

In Freiburg gibt es den Mundenhof, ein hübsches Tiergehege mit Dromedaren, Affen und allerlei Kleintier. Dort tauchte vor ein paar Monaten ein "Problem-Bussard" auf. Er stürzte sich immer wieder auf Mitarbeiter, die in den Gehegen und an den Futterstellen arbeiteten, sodass sie sich mit aufgespannten Regenschirmen schützen mussten. Er wurde eingefangen und in die Greifvogelwarte nach Rösrath gebracht. Der lapidare Kommentar aus Rösrath: "Er war sehr hungrig."

Den meisten Platz in meiner Abteilung "Wesen" nehmen die "Problem-Kinder" ein. Sie schaffen es einfach nicht, Mami und Papi glücklich zu machen. Irgendwie sind sie immer falsch. Wahlweise zu laut oder zu leise, zu unruhig oder zu still, zu wenig hübsch/ehrgeizig/erfolgreich/liebenswert. Autoritätspersonen arbeiten sich reihenweise an ihnen ab und kriegen sie einfach nicht hin. Ich kenne mich aus. Meine Mutter musste sich leider öfter aufregen mit den Worten: "Siehst du, jetzt hast du es wieder geschafft, mich wütend zu machen!" 

Wenn ich meine Kategorie "Wesen" so anschaue, frage ich mich: Haben die nicht im Grunde alle Hunger? Die wollen gefüttert werden, aber niemand gibt ihnen, was sie brauchen: Hühner, Mäuse, Inspirationen, anregende Lektüre, Anerkennung, ein Familienleben voller Freude. All diese Wesen werden nicht artgerecht gehalten, nicht aufmerksam beobachtet, nicht in ihren Bedürfnissen erkannt. 

Gestern kam ein "Problem-Hund" in meine Sammlung. Sie wächst.



Dann gibt es die Abteilung "Dinge". Ein Freund von mir hat einen "Problem-Computer". Er hat irgendwann eine Tasse heißen Kaffee auf die Tastatur gekippt, und das hat dem Computer nicht gefallen. Jetzt ist er - der Computer - in Abständen beleidigt und will nicht mehr so recht. Der Freund flucht dann und hämmert auf dem Keyboard herum und findet, dass das Modell nichts taugt.

Mein neuestes Lieblings-Stück in der Abteilung ist der "Problem-Pfeil von Bad Säckingen" (Zitat Badische Zeitung). Da hat eine Ampel einen grünen Rechts-Abbieger-Pfeil, der den Rechtsabbiegern erlaubt, eben rechts abzubiegen, während die Geradeausfahrer und Linksabbieger ihnen verärgert hinterherschauen müssen, weil sie selbst noch Rot haben. Nun liegt Bad Säckingen an der Schweizer Grenze. In dem kleinen Ort kaufen viele Schweizer ein, weil es in Deutschland billiger ist, was der Gemeinde ganz hübsche Einnahmen beschert. Den Schweizern aber, lese ich in der Zeitung, sei der Pfeil unbekannt, weshalb es immer wieder zu ärgerlichen Staus gekommen sei. Nun wurde "der Problem-Pfeil nach heftigen emotionalen Diskussionen" (Zitat) abgebaut. 

Es ein Kreuz mit den Dingen. Sie schaffen es einfach immer wieder, uns wütend zu machen. 

Wollt ihr meine Sammlung vergrößern? Schreibt gern in die Kommentare, wenn ihr ein Problem hinzufügen wollt. Ich freue mich über jedes.

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Sonntag, 9. November 2025

Lotus & Schlamm

 

Kalligrafie von Thich Nhat Hanh


Heute ist der Jahrestag der Reichsprogromnacht 1938 und des Mauerfalls 1989. Der Schatten und das Licht teilen sich dasselbe Datum. Das ist für mich eine Metapher, über die wir nachdenken sollten.

Vor über zwanzig Jahren bin ich in den von Thich Nhat Hanh gegründeten Order of Interbeing eingetreten. Das ist keine religiöse oder gar monastische Vereinigung. Es ist eine Gemeinschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, im Sinne des Interseins zu praktizieren und die Praxiselemente, die Thay entwickelt hat, weiterzugeben. Dennoch bekommt jedes neue Mitglied wie in monastischen Traditionen einen Namen, der zur Person passen und ein Kompass auf dem weiteren Weg sein soll. Ich bekam von Thay den Namen "True Lotus of Virtue".

Wir übersetzen ja das englische "virtue" meist mit "Tugend", und bei Tugend assoziieren wir Bravheit und Gehorsam, also war ich spontan nicht begeistert von meinem Namen. Aber vietnamesische Nonnen erklärten mir, dass Tugend in diesem Kontext so etwas wie "Erwachen", "Erleuchtung" bedeute. Damit konnte ich mich versöhnen, und als ich die Symbolik des Lotus ergründete, wusste ich: der Name passt zu mir.

Denn der Lotus wurzelt im Schlamm und muss sich durch die Dunkelheit des Teichs hindurcharbeiten, bevor er das Licht erblickt und sich zu seiner Schönheit entfalten kann. All das Dunkle in unserem Leben, dem wir uns nicht gerne stellen wollen, ist der Nährboden für unsere Schönheit - die Verluste, Enttäuschungen, Entbehrungen, die Schmerzen aller Art. Geliebte Menschen sind gestorben, vielleicht sogar unter grausamen Umständen; wir haben unsere Arbeit verloren, unser Haus, unser Land, unsere Ehe ist zerbrochen, wir oder Nahestehende sind krank geworden. 

Die sehr schwierigen Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, haben mich geprägt. Ohne sie wäre ich eine andere, ohne sie wären meine Bücher und meine Retreats andere. Mir geht es nicht um ein bisschen mehr "Achtsamkeit" im Leben, sondern um das Berühren der Tiefe in uns, die unser Wahres Wesen ist. Das ist der Ort, an dem der Same des Lotus wurzelt.



Wenn Du mit mir auf diese Reise gehen willst, lade ich Dich herzlich ein zu einem meiner Retreats. Ich werde im nächsten Jahr nur noch vier Termine anbieten, zwei in Freiburg, einen in Salzburg, einen im Bayerischen Wald. Die Termine sind jetzt auf meiner Homepage, Du kannst Dich für Freiburg bereits anmelden: hier (klick).

Ich würde mich sehr freuen, Dir im nächsten Jahr irgendwo zu begegnen.

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Dienstag, 4. November 2025

Zen-Mönch Ryokan





Der Herbst - ein Brokat
roter Ahornblätter
wie die Kleidung der Tang

Zen-Mönch Ryokan lebte nach seiner Ausbildung im Zen-Tempel ein einfaches und freies Leben. Er war berühmt als Dichter und Kalligraf, spielte am liebsten mit den Kindern und lehnte alle Angebote ab, Abt eines Tempels zu werden. Er hinterließ etwa 1800 Gedichte und Haiku. Er besang, was ihn in seiner ärmlichen Hütte umgab: den Mond, die Berge, die Wolken, den Bambus, die Pflaumenblüten, den Regen.

Mein Dharma-Bruder und Freund Dr. Munish Bernhard Schiekel hat sich die Mühe gemacht, eine umfangreiche Sammlung der chinesischen Gedichte und japanischen Haiku von Ryokan zusammenzustellen. Alle Texte sind in den Originalsprachen, in Kanji und deutscher Übersetzung aufgenommen. Es gibt Kommentare zu einzelnen Begriffen und eine schöne Biografie unter dem Titel "Leben und Poesie des Großen Narren Ryokan". Und der Benediktinermönch und Zen-Praktizierende Bruder David Steindl-Rast hat das Vorwort geschrieben. 

1831 starb Ryokan und schrieb, wie es bei Zen-Mönchen üblich war, vorher sein Sterbe-Gedicht:

Was wird bleiben
als mein Vermächtnis?
Im Frühling die Blüten,
im Sommer der Bergkuckuck,
im Herbst die Ahornblätter.
 
Ein schönes, umfangreiches Buch für alle, die Haiku, Zen und Ryokan lieben. 

"Zen-Mönch Ryokan - Leben & Wirken", chinesische Gedichte und japanische Haiku, zweisprachige Ausgabe mit einem Vorwort von David Steindl-Rast. Übersetzung aus dem Chinesischen und Japanischen und Kommentierung von M. Bernhard Schiekel. Das Buch ist als Book on Demand erschienen, hat 351 Seiten und kostet 16,99. ISBN 9-783769-327014. Ihr könnt es in der Buchhandlung kaufen oder direkt bei BoD bestellen hier (klick).

Es lohnt sich auch ein Blick auf die Website von Munish Schiekel, die zahlreiche Texte über Buddhismus und Buch-Rezensionen enthält: www.mb-schiekel.de

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Mittwoch, 29. Oktober 2025

Apollo5 "Ubi Caritas"

 

Im Sommer hatte ich das Glück, wieder eine meiner Lieblings-Vokal-Gruppen - Apollo5 aus London - in Staufen zu hören. Während sie zwei Jahre zuvor in der schönen Kirche waren, mussten sie diesmal in einer Turnhalle auftreten! Wer um alles in der Welt hat das entschieden? Aber die Fünf haben es mit britischem Humor genommen und waren professionell wie immer.



In meinem Blog poste ich ja nur, was mir wirklich gefällt, und dies liebe ich sehr: ein modernes "Ubi Caritas" von einem meiner zeitgenössischen Lieblings-Komponisten, dem Norweger Ola Gjeilo, hier natürlich gesungen von Apollo5. Wenn bei dir das Video nicht angezeigt wird: hier ist es (klick).

Diese schwebende, leuchtende Musik und der anbetungswürdige Sopran von Penelope Applewood soll dich in den November begleiten. Der Toten zu gedenken, muss überhaupt nicht traurig sein. Du kannst ihnen begegnen in der Sphäre, aus der diese Musik entstanden ist und in die sie dich entführt. 

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Mittwoch, 22. Oktober 2025

Zug wo? Ich mach!


 
Mai 2025, Fahrt nach Salzburg zum Retreat. Ich habe einen schönen Zug ausgesucht, 9.30 Uhr ab Freiburg, umsteigen in Stuttgart, dann gemütlich bis Salzburg. Nach dem geruhsamen Frühstück schaue ich mal vorsichtshalber auf meine DB-App und erfahre "Ihr Zug fällt aus." Gesendet um 2 Uhr nachts. Da schläft die Seminarleiterin, sie muss ja um 18 Uhr ausgeschlafen am Zielort sein.
 
Ich sause zur S-Bahn und steige am Hauptbahnhof in den nächstbesten Zug in Richtung Norden. Es ist ein ICE nach Hamburg; meine App empfiehlt mir, in Frankfurt in den Zug nach München umzusteigen. Der Zugbegleiter sieht das anders und empfiehlt den Umstieg in Mannheim: "Es könnte sein, dass Sie Ihren Anschlusszug in München sonst nicht erreichen". Es ist fünf Minuten vor dem Einlaufen in den Mannheimer Bahnhof und die Umstiegszeit beträgt vier Minuten von Gleis 2 auf, soweit ich mich erinnere, Gleis 6. Der junge Zugbegleiter findet das völlig ausreichend: "Das schaffen Sie!"
 
Soll ich? Soll ich nicht?
 
Ich wage es, stürze aus dem Zug und renne auf die Treppe zu. Dort steht ein etwa dreißigjähriger, nicht-deutsch aussehender Mann, der in Windeseile begreift, was hier auf dem Spiel steht. Er packt meinen Koffer und ruft: "Zug wo? Ich mach!", und gemeinsam rasen wir die eine Treppe hinunter, durch den unterirdischen Gang hindurch zur anderen Treppe und hinauf auf Gleis 6, wo der Zugbegleiter des ICE gerade seinen linken Fuß einziehen will, um den Knopf zu drücken, der die Türen schließen wird. Und jetzt geschieht das Wunder, dass dieser Mann die Konstellation junger rennender Araber mit Koffer und alte hinterherrennende Frau sofort korrekt interpretiert und - ein Bein auf dem Bahnsteig, eins auf der Zugtreppe - die Abfahrt so lange verzögert, bis der Koffer samt Frau im Zug ist.  

Juli 2025, Busfahrt vom Intersein-Zentrum nach Passau. Ziemlich großer Koffer, zwei hohe Stufen in den Bus, man kennt das. Zwischen den anderen zusteigenden Passagieren, die gelangweilt auf ihren Handys herumtippen, steht ein junger, nicht-deutsch aussehender Mann. Er greift, ohne nachzufragen, nach meinem Koffer und wuchtet ihn hinein.

Ankunft Passau Hauptbahnhof. Ich habe eine Stunde Aufenthalt, bis mein Zug nach Frankfurt abfährt, und will irgendwo an der Straße einen Kaffee trinken. Das gelingt mir aber nicht, denn die Kombination alte Frau und Koffer erregt die Aufmerksamkeit eines älteren, nicht-deutsch aussehenden Mannes, der sofort den Koffer packt und auf die Treppe zurast. Ich rufe, nein!, nein! und merke, wie fatal missverständlich sich das anhört. Jetzt glaubt er sicher, ich misstraue ihm und habe Angst um meinen Koffer, aber er denkt nicht ängstlich um Ecken herum, sondern hat nur die arme Alte mit dem großen Koffer im Sinn, den sie, da doch jetzt er da ist, nicht mehr die sehr gemeinen Stufen zum Bahnhof hochschleppen muss. Enthusiastisch ruft er: "Ja, ja, ich mach!", und so finde ich mich in der Bahnhofshalle wieder, mit meinem sorgfältig vor mir abgestellten Koffer. Der Retter verschwindet in der Menge.

Ich vertraue ihnen bedingungslos. Seit sie bei uns sind, reise ich bequemer. Sie kommen aus Kulturen, in denen das Alter geehrt wird. Sie wurden zur Aufmerksamkeit erzogen; sie sehen, wenn jemand Hilfe braucht. Herr Merz, die meisten dieser Menschen sind kein Problem, sondern eine Bereicherung.  

 


Übrigens: das ist die neue Rolltreppe auf Gleis 1 im Hauptbahnhof in Freiburg. Ja, es ist ein Statement. Die Bundestagspräsidentin verbietet die Regenbogenflagge auf dem Dach des Reichstags in Berlin, Freiburg pinselt seine Rolltreppe an. Ich wohne gerne hier.

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Dienstag, 14. Oktober 2025

Scobel und der Perspektivwechsel

 


Habt ihr es schon bemerkt: Scobel ist zurück auf youtube. 3sat hatte seine fabelhaften Beiträge im Frühjahr eingestellt, aber er hat Sponsoren gefunden (ein Hoch auf alle Sponsoren ... 😉), und seine Beiträge erscheinen mir freier und frecher als früher. Was allerdings gleich geblieben ist, sind seine herrlich schrillen Hemden. Wie gut, ich hätte sie sehr vermisst.

Ganz hervorragend finde ich dieses Video über den Perspektivwechsel, in dem er uns mit Hilfe des Bildes vom Fliegenglas und der Philosophie von Wittgenstein (den man sofort lesen möchte) erklärt, wie wir uns in unsere Probleme verrennen, weil wir unsere Interpretationen der Welt für die einzig richtigen halten. Für uns Meditierende ist der Perspektivwechsel natürlich nichts Neues, das praktizieren wir ständig, und auch Gert Scobel verweist als Zen-Praktizierender ganz nebenbei auf die Meditation als Werkzeug zur Erkenntnis (wobei er einen eigenen Beitrag dazu ankündigt, wir sind gespannt). Aber es meditiert ja nicht jeder, deshalb lasst euch von Scobel erklären:

"Unsere Perspektive ist weder fest noch hat sie einen festen Boden. Was wir machen, ist, lose Fäden aufzunehmen, die weit über uns als Individuen herausreichen, die werden uns von anderen zugereicht. Und dann verknüpfen wir diese Fäden neu. Und diese Verknüpfung, das neue Muster, das wir dann sehen, hat keinen Grund in den Dingen selbst. Was sich ändert, sind wir."

Ja, Freundinnen und Freunde, so ist es.

Alle, bei denen das Video nicht angezeigt wird, finden es hier (klick). 

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Dienstag, 7. Oktober 2025

Elizabeth Strout "Das Leben natürlich"

 

Wer hier schon länger mitliest, weiß, wie sehr ich die Bücher von Elizabeth Strout liebe. Im öffentlichen Bücherregal habe ich zu meiner Freude jetzt einen ihrer frühen Romane entdeckt, den ich schon kannte, aber beim zweiten Lesen so gut fand wie beim ersten. Lasst euch nicht von dem nichtssagenden Titel abschrecken. Im Original heißt er "The Burgess Boys"; das wäre stimmiger gewesen, denn es geht um die Geschichte der Brüder Jim und Bobby Burgess in der Kleinstadt Shirley Falls in Maine (und ihrer Schwester Susan, die im Titel nicht vorkommt, was aber zu ihrer Rolle in dieser Familie passt).

Seit Bob mit vier Jahren die Handbremse am Auto gelöst und den Vater überfahren hat, ist in dieser Familie alles aus den Fugen geraten. Jim hat sich scheinbar frei gemacht vom Kleinstadtmief und den familiären Depressionen und ist ein Staranwalt in New York mit zwei Kindern und einer wohlhabenden Frau. Susan dagegen ist geschieden, hat einen sechzehnjährigen Sohn, der zum Autismus neigt, und kriegt ihr Leben nicht auf die Reihe. Das fragile Gefüge der Burgess-Kinder gerät ins Rutschen, als Zach, Susans Sohn, einen Schweinekopf in die Moschee der Somalier wirft (er hat keinen Schimmer, warum er das getan hat) und der Generalstaatsanwalt ihn wegen Verletzung der Bürgerrechte anklagt.

In diesem Rahmen nun entfaltet sich die Dynamik zwischen den Geschwistern, und Elizabeth Strout zeigt die Ambivalenz der Gefühle in Dialogen, die zwischen Sarkasmus, Zuneigung, Mitgefühl und Wut oszillieren. Jeder hat seine Meinung über den anderen, aber wenn es darauf ankommt, unterstützen sie einander bedingungslos. Jeder spielt immer noch die Rolle, die von ihm und ihr seit der Kindheit erwartet wird. Der Strahlende, der Schuldige, die Hässliche. Aber Rollen sind nicht die Wahrheit, und als Jim seinem Bruder etwas beichten muss, brechen alte Gewissheiten zusammen und machen Platz für eine ganz andere Zukunft.

Elizabeth Strout weiß: das Leben ist unvorhersehbar, unordentlich, oft schmerzhaft, aber manchmal auch so überraschend schön. Ihre Gestalten straucheln, verirren sich, treffen haarsträubende Entscheidungen und haben doch tief innen - obwohl es ihnen selten bewusst ist - eine große Liebe zum Leben und zueinander. Das alles erzählt Elizabeth Strout ohne Sentimentalität, voller Verständnis und Wärme. Ein schönes Buch für einen kalten Winterabend, zu lesen unter einer kuscheligen Decke auf dem Sofa.

(Werbung) Wenn ihr online bestellen wollt, empfehle ich euch den gemeinwohlbilanzierten sozialen Buchversand Buch7, der soziale, kulturelle und ökologische Projekte unterstützt. Ihr werdet schnell und versandkostenfrei beliefert und ich erhalte eine (sehr kleine) Provision dafür. "Das Leben natürlich" als Taschenbuch bestellen hier (klick).

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