Donnerstag, 25. März 2021

Was nährt uns?

 Noch nährt sie nicht meinen Bauch - meine Balkon-Himbeere -, aber wie sie meine Sinne und meine Freude nährt!


Unsere Online-Meditation am vergangenen Sonntag hatte das Thema "Was nährt uns?" Wir haben uns darüber ausgetauscht, was uns hilft in dieser schwierigen Zeit. Jede und jeder hat mit uns geteilt, wo sie oder er jetzt Kraft findet. Und alle Kraftquellen hatten in irgendeiner Weise mit den Sinnen zu tun.

Im Puttamamsa Sutta erläutert der Buddha die Sinneseindrücke als "Nahrung". Wir wissen ja, dass Nahrung nicht notwendigerweise gut und gesund ist. Unsere Sinne können nicht zwischen giftiger und wertvoller Nahrung unterscheiden; sie nehmen unterschiedslos auf, was wir ihnen anbieten. Das erklärt der Buddha im Sutra mit einem Beispiel:

"Nehmen wir an, da ist eine Kuh, die den größten Teil ihrer Haut verloren hat. Wenn die Kuh sich an eine Lehmmauer lehnt, werden all die kleinen Wesen, die in der Mauer leben, kommen und das Fleisch der Kuh fressen. Dasselbe geschieht, wenn die Kuh sich an einen Baum lehnt. Ginge die Kuh ins Wasser, würden all die kleinen Wesen, die im Wasser leben, kommen und das Blut der Kuh aussaugen. Und wenn die Kuh der Luft ausgesetzt wäre, würden all die Wesen, die in der Luft leben, kommen und sich von der Kuh ernähren."

Wir alle sind in gewisser Weise Kühe ohne Haut. Wir sollten die Gewalt, mit der Sinneseindrücke sich auf uns stürzen, nicht unterschätzen. Wenn wir nicht aufpassen, fressen sie uns auf. Was also schauen und hören wir uns den ganzen Tag lang so an? Was von den gerade in Zeiten der Lockdowns so zahlreichen Online-Angeboten nehmen wir wahr, was ist für uns wirklich wichtig und hilfreich? Ich finde es hilfreich, darüber genau nachzudenken, damit ich mich, wo immer das möglich ist, bewusst entscheiden kann anhand meiner Erkenntnis: für einen Eindruck oder dagegen.

Auf dem Foto seht ihr, was mich gerade nährt: die Natur, die Waldgänge und mein Balkon, den ich in diesem Jahr umstellen werde auf einen wildbienenfreundlichen Wildblumenbalkon. Ich werde euch zweifellos in den nächsten Monaten mit Neuigkeiten von der Wildblumen- und Bienenfront nerven.

Und was nährt euch?


Sonntag, 14. März 2021

Der ultimative Familien-Lockdown-Song

 

Konzerthallen zu, Festivals abgesagt, Freunde treffen nicht erlaubt - da macht man doch sein eigenes Konzert, wenn man schon zu sechst ist. Und nichts Vorgefertigtes, nichts mit langweiligen Noten, von denen man mühsam abliest. Sondern selbst getextet zu Popsongs, die man sich mal eben ausleiht (das britische Urheberrecht ist, by the way, da nicht so pingelig wie das deutsche).

Ladies and Gentlemen, welcome the Marsh family: Ben, Danielle, Alfie, Thomas, Ella und Tess. Eine coole Familie, in der wäre ich gern groß geworden.

Habt einen fröhlichen Sonntag.


Mittwoch, 10. März 2021

Fragile Schönheit

 

Dies entdeckte ich zwischen den Bodenplatten meines Balkons, dort, wo der Regen nicht hinkommt. Ich schaute mir das Gewächs an und fragte mich, was das gewesen war. Im nächsten Moment bemerkte ich beschämt, was ich da gedacht hatte. Ich hatte fraglos angenommen, dass diese namenlose Pflanze als verdorrte nicht mehr existierte. Ihre Blüh-Zeit war abgelaufen, also gab es sie für mich nicht mehr. Aber sie ist hier, zwischen meinen Bodenplatten, zart und zerbrechlich, eine pergamentene Schönheit, von der ich den botanischen Namen nicht weiß und jetzt auch nicht mehr wissen will.

Wie für uns Ältere empfohlen, kaufe ich zu ruhigen Zeiten im Supermarkt ein, so zwischen zwei und drei. Dann kommen die alten Damen und Herren aus dem benachbarten, sehr feinen Seniorenheim, und schieben ihre Rollatoren durch die Gänge. Seit ich mein unbekanntes Gewächs hüte, indem ich es vor den gelegentlichen Frühlingsorkanen mit einem großen Blumentopf schütze, schaue ich den Damen und Herren in die Gesichter. Ich sehe Zartes und Zerbrechliches und manchmal eine durchsichtige Schönheit, die nur entsteht, wenn die Blüh-Zeit zuende ist.

Manchmal schaue ich in den Spiegel und frage mich, ob mein Gesicht in zehn Jahren eine solch fragile Schönheit haben wird wie meine unbekannte Pflanze. Vielleicht muss man voll und ganz geblüht haben, um solch ein Pergament zu erschaffen. Und ich weiß nicht, ob ich das für mich in Anspruch nehmen kann.

Wir werden sehen.


Montag, 1. März 2021

Nichts Besonderes

 

Nichts Besonderes. Nur ein Nachmittag voller Glück im Vorfrühling. Nur der sonnenüberflutete Waldrand, die neugierigen Meisen, der hämmernde Specht (oder war es ein Kleiber?). Nur das erste Scharbockskraut im Unterholz, die winzigen Blüten vom Ehrenpreis am Feldrain. Die Büschel von Schneeglöckchen.



Nur die Weite des umgepflügten Feldes, das saftige Grün der Weide, das spätnachmittagliche Licht auf einem Pferderücken. Nur der Hahn mit seinen Hennen, die Zuneigung zweier Kühe, Kopf an Kopf ruhend, und die Gelassenheit der Gänse. Und nur die Handy-Kamera dabei.

 


Wie gesagt: Nicht mehr als das. Und doch alles da für das Glück.


Dienstag, 23. Februar 2021

Frau Irgang kocht: Risotto mit Birne und Radicchio

Am Sonntag haben die Menschen das gute alte Picknick wieder entdeckt. Saßen auf allen verfügbaren Bänken, Thermoskannen und Brotdosen zwischen sich. Sogar Decken waren am Bach ausgelegt. Ich fühle durchaus mit den Café- und Restaurantbesitzern, die ihre spärlichen Abholkarten ins Internet stellen, aber unser Lieblingsrestaurant hat auf alle Preise zwei bis drei Euro aufgeschlagen. Und weil der armen Meditationslehrerin coronabedingt ein Seminar nach dem anderen abgesagt wird (fünf bis jetzt, die sechste Absage droht), tut sie, was sie immer getan hat: kochen!

Heute mal wieder ein Rezept in der für mich typischen Geschmacksmischung pikant-fruchtig.

Wie macht man's? Mengen ganz nach Wunsch. Hier zum Beispiel für eine Person:

Eine Schalotte fein würfeln, in Olivenöl sanft glasig braten. Risotto-Reis (Carnaroli oder Arborio) dazugeben, mit der Zwiebel verrühren. Dann mit Gemüsebrühe gerade so bedecken, die Brühe regelmäßig nachfüllen und unter ständigem Rühren sämig kochen. Zum Schluss einen Schuss Weisswein dazugeben.

Währenddessen eine Birne schälen und in ca. 1,5 cm breite Stücke schneiden. Eine große Handvoll Radicchio in schmale Streifen schneiden (fällt zusammen, also eher mehr). In einer Pfanne ca. 1 EL Olivenöl mit ca. 1 EL Butter schmelzen lassen, 1 TL Puderzucker hineingeben und karamellisieren lassen. (Den Reis nicht vergessen! RÜHREN!)

Birne und Radicchio mit ein wenig frischem Rosmarin in der Öl-Butter-Mischung schwenken, bis der Salat zusammenfällt. Mit Salz und Pfeffer würzen. Wenn der Risotto fertig ist, ein großzügiges Stück Blauschimmelkäse (ich nehme St. Augur, Rocquefort ist auch nicht schlecht) und die Birne-Radicchio-Mischung unterrühren.

Wer's mag, kann Parmesan darüber reiben.

Guten Appetit.


Sonntag, 14. Februar 2021

Neue Ausstellung im Winterweltmuseum

 

 

Wer mein Lieblingsmuseum in Corona-Zeiten noch nicht kennt: Vor drei Monaten habe ich darüber geschrieben hier (klick). 

Im Moment ist eine temporäre Ausstellung mit Abstrakten zu sehen. Sozusagen eine Pop-up-Ausstellung, also ein modernes Format. Man sollte sich beeilen mit dem Besuch. Ich liebe ja sehr die Abstraktion - sie gibt meinem Geist den Raum, den er braucht, um sich zu entfalten. Wenn dann auch noch die Farben so gedämpft sind wie in diesen Exponaten, bin ich restlos glücklich. Ich kann, wenn ich will, allerlei Konkretes ins Abstrakte hineindenken. Ich kann es aber auch lassen und mich einfach nur erfreuen an Licht, Schatten, Struktur.

 


Genau, Struktur. Das ist das Besondere an dieser neuen Ausstellung: Man weiß eigentlich nicht genau, ob man es mit Bildern oder Objekten zu tun hat. Es wirkt alles so plastisch, aber gleichzeitig auch flächig. Was mich aufs Neue davon überzeugt, dass man Kunst nicht in etikettierte Schubladen sperren darf. (Gespräch mit einer Buchhändlerin vor ein paar Jahren: "Ich weiß nicht, wo ich Ihre Bücher einordnen soll. Das ist weder Bellektristik noch Sachbuch.")

Ich empfehle die neue Ausstellung im Winterweltmuseum nachdrücklich. Aber, wie gesagt: schnell anschauen. Könnte morgen schon vorbei sein.


Montag, 8. Februar 2021

Herzarbeit

 

Dies habe ich für T. übersetzt.

Herzarbeit

von Anita Barrows 

Montag. Bronzenes Sonnenlicht

auf dem verschlissenen grauen Teppich
im Esszimmer, wo Viva sitzt
mit ihrer Blockflöte. Schmerzgereiftes Sonnenlicht,
hätte ich fast geschrieben, wie die riesige
strauchgereifte Tomate,
die meine Freundin gestern
aus ihrem Garten brachte, für unseren Salat:
Sinnbild für das,
was zum Ende kommt in seiner eigenen Zeit;
dann löst es sich leicht und braucht nichts mehr
vom Sommer.

Die Töne
eines mittelalterlichen Tanzes
strömen anmutig von Vivas Atemstrom. Etwas,
das angehalten worden war,

beginnt sich zu regen: ein Blatt,
von der Strömung an einen Felsen getrieben,
befreit sich, findet wieder seinen Weg
durch fließendes Wasser. Der Einfallswinkel
des Lichts

ist schmal, dennoch füllt es
diesen Raum, in dem wir sind. Was mich aufhält,
ist manchmal ein Überfluss. Auch
mein Kummer,
im Sommer umfassend geworden,
erscheint mir heute Morgen,

als würde er –

wenn ich ihn dort berührte,
wo der dicke dunkle Stängel
an die Wurzel gewachsen ist - 

sich selbst herausziehen, im Ganzen;

ich würde ihn nutzen können. 
 
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Margrit Irgang
 
Anita Barrows ist Psychotherapeutin und Dichterin in Berkeley, Ca. 

 

Sonntag, 31. Januar 2021

Zeit der Möglichkeiten

... zum Beispiel ist es zur Zeit möglich, trotz strenger Kontaktbeschränkungen interessanten Besuch zu bekommen.

 

Als wir in den ersten Lockdown geschickt wurden, sprach die Bundeskanzlerin von einer „neuen Normalität“, die uns in der Zukunft erwarten würde. Aber die Zukunft trödelt herum und will sich nicht einstellen. Jens Spahn hält sich deshalb lieber an die Vergangenheit und hofft auf eine „Rückkehr zur Normalität“ im Sommer dieses Jahres. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller glaubt dagegen „vorerst nicht“ an eine Rückkehr zur Normalität, während der Chef der Stiko, der Ständigen Impfkommission, mit einer Rückkehr zur Normalität Ende des Jahres 2021 rechnet, wenn die Herdenimmunität erreicht sein soll.

Corona hat zahllose Menschenleben gekostet, Gesundheitsschäden und Konkurse verursacht und tut es immer noch. Ist es wirklich möglich, in das zurückzukehren, was wir als Normalität empfinden - also das behaglich Vertraute, seit jeher Gewohnte? Oder eröffnet uns diese Zeit neue Möglichkeiten?

Darüber habe ich mir auf dem Portal "Netzwerk Ethik heute" Gedanken gemacht. Der Link zum Artikel ist hier (klick).


Dienstag, 26. Januar 2021

Diese Zeit des wabi sabi


Ich habe hier schon öfter über wabi sabi geschrieben, diese zutiefst japanische Ästhetik des Einfachen, Unperfekten und Unvollkommenen. Wabi sabi ist die verborgene Schönheit, die sich nicht aufdrängt und sich nur dem aufmerksamen Auge enthüllt. Die japanische Tee-Zeremonie, chado, ist ein Ausdruck dieser Kultur. Der Teeraum enthält nur das Allernötigste (das aber in höchster Qualität), die Teeschalen sind rau, uneben geformt und von zurückhaltender Farbe. Nichts glänzt und prunkt.

Wabi sabi wird zumeist als Stil verstanden, ausgedrückt in Design, Architektur und Gartengestaltung. Aber wabi sabi ist im Grunde eine Lebenshaltung. Menschen, die wabi sabi leben, schätzen gerade die Abwesenheit alles Überflüssigen und Lauten. Wo vorher Enge herrschte, entsteht Raum, zuerst im Äußeren, aber dadurch - denn das Äußere wirkt immer auf den Geist zurück - in ihnen selbst. Produkte, die im Sinn von wabi sabi hergestellt werden, sind übrigens nicht billig. Wer einmal eine japanische Teeschale, von einem Töpfer im Holzofen gebrannt, erstehen wollte, weiß, was ich meine. Eine solche Teeschale ist eine Anschaffung fürs Leben und wird weitervererbt durch Generationen.

Und nun ist etwas Außerordentliches geschehen. 



 
Alles Üppige, Laute und Bunte, das uns in Atem gehalten hatte, wurde geschlossen und zum Verstummen gebracht. Es ist still geworden in unserem Alltag, der aus einfachen Freuden besteht: dem Zubereiten einer köstlichen Mahlzeit, dem Besuch des einen Freundes, den wir noch empfangen dürfen, dem Gang durch den kahlen Winterwald. Die Farben um uns herum sind gedämpft, nichts leuchtet, nichts glänzt. Das Leben fühlt sich unvollkommen und unperfekt an; an manchen Tagen ist es rau, holpert und knirscht.

Das Leben hat uns kollektiv in eine Welt des wabi sabi geworfen, und wir haben jetzt die einzigartige Gelegenheit, Eigenschaften zu üben, die wir vielleicht lange nicht mehr eingesetzt haben. Wer die Schönheit von wabi sabi erkennen will, braucht Aufmerksamkeit auf die subtilen Nuancen. Dafür muss er oder sie innehalten, das Tempo aus dem Alltag nehmen, geduldig sein und lange und genau hinsehen und hinhören. Welche Schattierungen hat der Nebel? Sind die Adern des Blattes nicht ein Echo auf die Maserung des Holzes? Welche vorher verborgenen Seiten zeigt der eine Freund, auf den wir uns jetzt konzentrieren, weil kein anderer da ist? 
 



Wabi sabi schafft Raum, im Äußeren und im Geist. Wir müssen nur bereit sein, unsere Vorstellungen von dem, was ein "gutes", "richtiges" und "interessantes" Leben ist, loszulassen. Diese Vorstellungen waren seit jeher ein Ballast, den wir mit uns herumgeschleppt haben. Jetzt zieht die Leichtigkeit ein. Wir vergeuden keine Kraft mehr mit der Suche nach dem Aufregenden, Großartigen, Überwältigenden. Wir erwerben radikal neue Sichtweisen, und wie jeder Lerninhalt ist auch dieser eine Investition ins Leben. Vielleicht entsteht dabei etwas in uns, das wir weitergeben können - wie die kostbare Teeschale aus dem Ofen des Töpfers. 

Diese Zeit könnte eine der wertvollsten sein, die wir je erlebt haben.
 

Donnerstag, 21. Januar 2021

Ein Baum geht seinen Weg


Ich entdeckte ihn im Schlosspark meines kleinen Ortes im Frühjahr, als ihn das Laub seiner Kollegen noch nicht verdeckt  hatte. Ich war beeindruckt: Ein Baum mit Lebensgeschichte. Etwas oder jemand hatte sich ihm vor Jahrzehnten - oder waren es Jahrhunderte? - in den Weg gestellt. Man kennt das aus dysfunktionalen Familien: Einem Familienmitglied wird aus Neid und Eifersucht die Entfaltung verwehrt. Ein schwacher Charakter wird dann resignieren und verkümmern. Ein starker lässt sich nicht unterkriegen, dem fällt eine Lösung ein.

Ich stelle mir die vor Kraft strotzenden Riesen vor, die dem Bäumchen nicht das Licht für seine Photosynthese gönnten. Der Wald ist voll von solchen selbstherrlichen Diktatoren (habe ich von Deutschlands Lieblingsförster Peter Wohlleben gelernt). Null Chance also für den Nachwuchs, aber hey, der Kleine ist klug. Dort links von ihm hat der Blitz einen der Egozentriker gefällt, und Bäumchen nutzt seine Chance. Wächst beharrlich in Richtung Lücke, was zwar ein paar Jahrzehnte in Anspruch nimmt, aber als Baum hat er ein anderes Verständnis von Zeit. Leider ist es nach oben hin auch dort ziemlich voll. Geduld ist angesagt, die hat er zur Genüge, und dann kommt seine Chance: Ein Sturm lässt den Nachbarn ächzend zu Boden sinken, und der Weg nach oben ist frei.

 

 

Im Sommer besuchte ich meinen Baum erneut und erkannte ihn kaum wieder. Er stand im Kreis seiner Geschwister, Cousins und Cousinen, die ihn vollkommen mit Grün umlaubt hatten. Ein Gerüsche und Gewoge von Blättern umgab seine Einzigartigkeit und löschte sie aus. Auch das kennen wir aus Menschenfamilien: Wehe dem, der herausragt aus der allgemeinen Mittelmäßigkeit - der wird die Macht des Kollektivs kennenlernen.

Im Oktober war ich wieder da. Ich hatte es schon geahnt: Die kleinen Geschwister waren nichts als Blender gewesen. Die ganze grüne Prachtentfaltung hatte nur dazu gedient, ihre Mickrigkeit zu kaschieren. Aber er, mein Baum, schwang sich in seinem eleganten Bogen weit über sie hinaus. Vor Jahren schon hatte er Nachwuchs gezeugt (der Begriff passte nie besser als hier), ein stolz aus der Biegung seines Körpers aufragendes Bäumchen. Vielleicht wollte er zeigen, dass er auch das Gerade hinbekommt, nicht nur das Krumme. Aber ich sehe das anders: Mein Baum hat ein Einhorn zur Welt gebracht. 

Wenn ich müde bin vom erneuten Lockdown, den Kontaktbeschränkungen, dem Maskenzwang, besuche ich meinen Baum und das kleine Einhorn. Ich tue das vorschriftsmäßig im Einklang mit den Corona-Regeln, als die eine Person, die einen Haushalt besuchen darf. Bei den beiden atme ich auf. Sie leben in einer weiträumigen Zeit. Was sind schon Monate? Die beiden rechnen in Jahrzehnten.

Und meinen im Moment angeblich so gefährlichen Atem verwandeln sie in heilsame Terpene, die sie mir mit der für die Gattung Baum bekannten Güte zurücksenden. 

Geht zu den Bäumen, meine Lieben.