Dienstag, 15. Juli 2025

Andrea Gibson, RIP

 


Andrea Gibson war eine der großen zeitgenössischen Dichterinnen der USA, Poet Laureate von Colorado und auch sonst vielfach ausgezeichnet. Vor vier Jahren bekam sie die Krebs-Diagnose, und wir konnten miterleben, wie sie sich durch Schmerzen und heftigste Behandlungen hindurcharbeitete und dabei immer leuchtender und liebender wurde: "Sometimes grief is the fastest way to the truth". 

Andrea hinterlässt ein unglaubliches Werk voller Schmerz und Freude. Man kann ihre Gedichte eigentlich nicht übersetzen, deshalb tue ich es hier nicht. Man sollte sie überhaupt nicht lesen, sondern hören. Schaut Euch das Video an, dann wisst Ihr, was ich meine. Es trägt den Titel "Every Time I Ever Said I Want to Die".

"A difficult life is not less worth living than a gentle one. Joy is simply easier to carry than sorrow, and your heart could lift a city from how long you’ve spent holding what’s been nearly impossible to hold.

This world needs those who know how to do that. Those who could find a tunnel that has no light at the end of it, and hold it up like a telescope to know the darkness also contains truths that could bring the light to its knees.

Grief astronomer, adjust the lens, look close, tell us what you see."

Auf ihrem Substack Account schrieb sie unter anderem "Love Notes From The Chemo Room". Jede und jeder von uns, die wir in schwierigen Umständen welcher Art auch immer leben, sollten ihn lesen, finde ich:  https://andreagibson.substack.com/. Andreas Gedichte und ihre Emotionalität gehen mir unter die Haut, und es gibt Tage, an denen ich sie nicht ertrage. Aber was für ein Wunder, dass eine solch hochbegabte Autorin ihre tiefsten Schmerzen und Freuden mit uns geteilt hat.

Andrea starb gestern, am 14. Juli, im Alter von 49 Jahren.

(Wenn bei Euch das Video nicht eingebettet wird: Hier ist es.)

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Sonntag, 13. Juli 2025

Dieser Löwe schläft nicht

 


Im Urwald schreien die Affen und Vögel, ab und zu kommt ein Wolkenbruch, und irgendwo, versteckt in einer Höhle, schläft ein Löwe.

Er schläft da genau fünf Minuten, aber dann wacht er auf. Das ist nicht verwunderlich. Wer wacht nicht auf, wenn er den fabelhaften Knabenchor Dagilélis aus Litauen hört, hier mit "The Lion Sleeps Tonight".

Alle, bei denen das Video nicht angezeigt wird, finden es hier:  https://www.youtube.com/watch?v=tGxyoRuslpA&list=RDtGxyoRuslpA&start_radio=1 

Ich wünsche euch sonnige Tage. Verschlaft sie nicht, der Sommer ist kurz.

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Sonntag, 6. Juli 2025

Eine Tasse Tee

 


"In unserer Alltagssprache reden wir vom 'Menschen ohne Tee in sich', wenn er für die Tragikomik des eigenen Erlebens unempfänglich ist." Kakuzo Okakura

Als ich in der Villa Massimo in Rom lebte mit einem Stipendium des Bundes-Innenministeriums, merkte ich nach zwei Monaten, dass diese Villa mit ihren zwölf Stipendiaten (samt Familien) trotz ihres herrlichen Gartens für mich alles andere als ein Refugium war. Ich musste etwas finden, das mir half, in meine Zen-Welt einzutauchen. Ich fand es in der Urasenke-Teeschule bei Teemeisterin Signora Michiko Nojiri. 

Jede Woche fuhr ich eine Stunde lang quer durch die Stadt - wer jemals in Rom mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren ist, weiß, dass das keine Freude ist -, um eine Stunde lang japanische Tee-Zeremonie zu üben. Und dann eine Stunde zurück in die Villa zu fahren. Man muss schon ein Nerd sein, um das zu tun. (Oder eine geduldige Zen-Schülerin.)

Chado, der "Weg des Tees", ist eine der Zen-Künste, und als solche ist ihr tiefstes Anliegen natürlich das Erwachen zu unserem Wahren Wesen. Das streng Ritualisierte der Zeremonie erfordert einen Teeraum mit Tee-Geräten, einen Gastgeber und Gäste, die Teil der Zeremonie sind. Das kann man zu Hause nicht aufrechterhalten, aber wie immer im Zen liegt das Wesentliche jenseits des Äußeren, genau gesagt: Die Form ist nur das Medium, das die Erfahrung ermöglicht. 

Seit Rom habe ich eine tiefe Liebe zum Tee. Und damit meine ich nicht nur das Getränk selbst, sondern die Lebenshaltung, die für Japaner damit verbunden ist. 

Kakuzo Okakura war im 19. Jahrhundert ein Förderer der Künste in Japan und gründete sogar Kunsthochschulen. Später wurde er Direktor der ostasiatischen Abteilung des Museum of Fine Arts in Boston und lebte abwechselnd in Japan und den USA. Bei uns ist er vor allem durch "Das Buch vom Tee" bekannt geworden. Darin finden sich Sätze wie dieser: "Teeismus ist ein Kult, gegründet auf die Verehrung des Schönen inmitten der schmutzigen Tatsachen des Alltags."

Und so verehre ich das Schöne jeden Tag bei zwei, drei Tassen Tee. Am Vormittag, am Nachmittag, wie es gerade passt. Meine zwanzigminütige Teezeit ist das Reich der Schönheit; der Alltag findet dort nicht statt. Ich habe eine kleine feine Auswahl an Grüntees, die ich in zuverlässigen Tee-Geschäften kaufe. Meine Tees sind Diven. Jeder möchte eine andere Ziehzeit und schmeckt erst bei der richtigen Menge Blätter auf die richtige Menge Wasser, das die richtige Temperatur haben muss. Tee-Menschen sind ... speziell.

Aber bereits mit der Auswahl des Tees beginnt die Erschaffung der Schönheit. Jeder Handgriff wird bewusst ausgeführt. Ich gebe den Tee in den Becher, die Tasse oder das Kännchen (natürlich besitze ich eine kleine feine Kollektion hübscher Gefäße). Ich habe keine offene Feuerstelle, wie sie jeder klassische Teeraum hat, und keinen darüber aufgehängten Eisenkessel. Das stört mich nicht. Ich lausche meinem Wasserkocher, der sich, immer heftiger brodelnd, der vorher eingestellten Temperatur nähert, gieße Wasser auf die Teeblätter, stelle den Timer ein, und nach einer oder zwei Minuten setze ich mich an den Tisch, erschnuppere das Aroma und genieße. Kein Gedanke stört die Atmosphäre, keine weitere Handlung ist erforderlich. Nichts wird geplant, nichts erledigt. Handy und Laptop sind ausgeschaltet. Der Alltag ist weit weg. 

Ich trinke eine Tasse Tee. Das ist alles.



Diese kleine Alltags-Zeremonie kann bei dir auch ganz anders aussehen. Jedes Ritual muss zu dem Menschen, der es ausführt, passen; erst dann berührt es Herz und Geist und kann seinen Sinn erfüllen. Vielleicht hat dein Ritual gar nichts mit Tee zu tun. (Aber wenn es mit Tee zu tun hat: KEINEN TEEBEUTEL!) Vielleicht liest du ein Gedicht, eine Geschichte, hörst einen Song, eine Kantate. Es geht darum, in deinem Tag solche Inseln der Stille und Schönheit zu erschaffen. Auf solchen Inseln werden wir selbst still und von innen heraus schön, wir werden zu "Menschen mit Tee in sich". Und, in meinem Alter nicht zu vergessen: "Nur wer schön gelebt hat, kann auch schön sterben."

Das Buch von Okakura gibt es in zwei Ausgaben. Die linke aus dem Nikol Verlag, übersetzt von Tom Amarque, kostet 7 EUR. Die rechte aus der Insel-Bücherei, übersetzt von dem Japanologen Horst Hammitzsch und mit schönen Illustrationen versehen, kostet 15 EUR. Ich empfehle euch die Insel-Ausgabe, die Übersetzung ist poetischer und entspricht dem Tee-Geist mehr.

(Werbung) Wenn ihr online bestellen wollt, empfehle ich euch den gemeinwohlbilanzierten sozialen Buchversand Buch7, der soziale, kulturelle und ökologische Projekte unterstützt. Ihr werdet schnell und versandkostenfrei beliefert und ich erhalte eine (sehr kleine) Provision dafür. "Das Buch vom Tee" aus dem Nikol Verlag bestellen hier (klick).   "Das Buch vom Tee" aus der Insel-Bücherei bestellen hier (klick).

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Montag, 30. Juni 2025

Abends am Teich

 

Es ist Abend, der Tag erwacht.

Es war, als hätte er seit dem Morgen den Atem angehalten. Ermattet ließ er sich von den Stunden durchziehen und schenkte uns keinen Hauch. 

Jetzt atmet er aus. 



Kleine vielbeinige Wesen erwachen im Gras. Ein Fisch springt aus dem Wasser. Etwas gestreift Geflügeltes summt, etwas samtig Dunkelbraunes brummt.  

Am Ufersaum steht unbeweglich eine Taube, die roten Füße im Wasser. Sie bückt sich und trinkt. Blickt sich um. Trinkt. Sie hat die Oase gefunden, spät am Tag, aber rechtzeitig vor dem Schlafengehen. Endlich herrlich kühle Füße. Hier wird sie so schnell nicht weggehen. Sie blickt. Sie trinkt.

Die Libellen üben Tiefflüge. 


 

In den Bäumen erwachen die Wesen der Nacht. Ein Ruf weht über das Tal, als blase jemand in ein Holzrohr, das keine Klanglöcher hat. Ein trockener, hohler Ton ohne Nachschwingen. Von der anderen Seite des Tales kommt die Antwort. Trocken, hohl. 

All dies Rufen, Brummen und Summen ist die Stimme der Stille in den Dingen der Natur. Wenn sie ganz bei sich sind, am Abend und frühen Morgen, kann man sie hören, wenn man im Schweigen geübt ist. 

Die Erde rollt sich in eine weitere heiße Nacht. 

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Samstag, 21. Juni 2025

Rhythmus in meinem Leben

 


Die Wissenschafts-Journalistin Dr. Ulrike Gebhardt interessiert sich für das Thema Rhythmus. Sie schreibt darüber in dem interessanten Blog "Taktvoll" hier (klick). 

Ab und an befragt sie Menschen nach ihren eigenen Rhythmen und wie sie diese leben. Sie hat auch mich eingeladen, die Fragen in ihrem Fragebogen zu beantworten, über die nachzudenken sich für jede/n lohnt. Habe ich gern gemacht. 

Wenn ihr Lust habt, schaut ihn euch an hier (klick).

Ihr erfahrt ein paar Dinge über mich, die ihr mich sicher nie gefragt hättet. 😊

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Mittwoch, 18. Juni 2025

Richard Pousette-Dart "Poesie des Lichts"

 

Feier der Geburt 1975/76


"Jedes lebendige Kunstwerk ... enthält einen inneren Kern, der mit Erklärungen, Definitionen und Untersuchungen nicht erreicht werden kann. Der Kern bleibt jenseits von all dem. Es ist dieses lebendige Etwas, das Kunst mystisch macht und wirklich." (Richard Pousette-Dart)

Richard Pousette-Dart brach sein Studium am renommierten Bard College ab, um seinen eigenen Weg zu gehen. Im Jahr 1941 - er war gerade 24 Jahre alt - erhielt er seine erste Einzelausstellung und wurde rasch, wie das im Kunstbetrieb so üblich ist, eingeordnet, in seinem Fall in die Generation der Abstrakten Expressionisten. Pousette-Dart aber lehnte jede Einordnung ab. Er lebte zurückgezogen, las Mystiker wie Jakob Böhme, auch Laotse und Daisetz Teitaro Suzuki und widmete sich den universellen spirituellen Symbolen Kreis, Spirale, Kreuz und Welle. Er wollte in seiner Kunst etwas erkunden, das er "Präsenz" nannte. Was macht ein Kunstwerk lebendig - und was geschieht zwischen dem Betrachter und dem Werk?




Byzantinische Kapelle


Im Museum Frieder Burda in Baden-Baden ist jetzt - dreiundzwanzig Jahre nach dem Tod des Künstlers - die erste Retrospektive seines Werks außerhalb der USA zu sehen, die zu Recht den Titel trägt "Poesie des Lichts". Vor den riesigen Leinwänden zu stehen ist überwältigend. Alles flirrt, tanzt, jedes Partikel scheint sich zu bewegen. Pousette-Dart hat bis zu dreißig verschiedene Farbschichten aufgetragen und teilweise wieder weggekratzt. Das Tryptichon "Byzantinische Kapelle" scheint aus winzigen Mosaiksteinen zusammengesetzt zu sein, aber es ist ein Gemälde. Von Weitem betrachtet, fällt hier das Licht durch blaue Kirchenfenster. Erst wenn man nahe herantritt, sieht man die feinen Grün- und Rottöne, die durch das Blau hindurchschimmern, und die pastos aufgetragene Farbe verändert das Bild je nach Lichteinfall.



Detail aus der "Byzantinischen Kapelle"


"Kunst ist Magie, sie ist Freude, mit Gärten voller Überraschungen und Wunder. Kunst ist Energie, Impuls, sie ist Frage und Antwort. Sie ist transzendentale Vernunft. Sie ist ihrem Geist nach ganzheitlich." (Richard Pousette-Dart)

In seinem sehr guten Essay im Begleitheft zur Ausstellung sagt der Schriftsteller Daniel Schreiber: "Bilder, die mit allen Dimensionen des Lichts spielen, mit seiner emotionalen und psychischen Wirkung, mit seiner irisierenden Reflexionsfähigkeit, mit seinem Schimmern, seinem Glanz und seinem Strahlen, mit seiner Fähigkeit, ungeahnte Energien freizusetzen. Es sind sphärische Harmonien, die so emotional sind, dass man sich ihnen kaum entziehen kann. Es sind Bilder, in denen man sich verliert."

Die Freude des Malers beim Malen strahlt aus jedem Bild. Ich konnte mich nicht sattsehen an diesem Leuchten und Flirren, und als meine Freundin und ich nach Stunden die Ausstellung verließen, waren wir einfach nur glücklich.



Das Prächtige 1950/51


Die Ausstellung ist bis zum 14. September 2025 im Museum Frieder Burda in Baden-Baden zu sehen. Unbedingt ansehen! Informationen hier (klick).

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Freitag, 13. Juni 2025

Morgens im Wald

 


An Pfingsten scheint halb Freiburg in den Süden gefahren zu sein (kluge Leute waren da bereits und sind längst wieder zu Hause ...), also ist jetzt die schönste Zeit, in den Wald zu gehen. Das Grün ist nach dem tagelangen Regen geradezu überfordernd für die Augen, und meine Lungen erschrecken fast, so viel reine Luft angeboten zu bekommen. Können sie die überhaupt noch bewältigen?

Lange nicht mehr hier gewesen. Wurde Zeit.



Dieses herrliche Alleinsein. Im Wald hat es eine andere Qualität als in der Wohnung. Es wird größer, umfassender, bekommt räumliche Qualität und übersteigt das Persönliche. Die Dinge des Waldes sind bei sich, und ich betrete ihren Seinsraum behutsam und respektvoll. Sie lassen mich gewähren (ich bin ihnen egal), und das ist mehr, als ich in irgendeiner Straße irgendeines Ortes je erlebe. Kein fremder Blick stört mich beim Schauen, ich darf einfach hier sein, ohne mich vorstellen oder meine Anwesenheit erklären zu müssen.





Aber Paradiese gibt es nur in der Literatur. Etwas bricht krachend aus dem hüfthohen Gebüsch. Ein Reh, ein Hase, wütendes Wildschwein, muss man wachsam sein? Ja, man muss: Ein Paar mit Stöcken stapft vorbei und mustert mich und mein Smartphone befremdet. Er wähnt sich außer Hörweite, als er zu ihr sagt: "Hier gibt`s doch nix zu fotografieren!"






Wieder allein in der Stille. Oben in den Wipfeln zarte Vogelrufe. Ein Junimorgen um halb neun. Ich möchte jetzt an keinem anderen Ort in der Welt sein.

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Samstag, 7. Juni 2025

Der geschmeidige Geist

 

Quelle: Wikipedia


Ich habe gelesen, dass bestimmte Spinnen-Arten ihre Netze grundsätzlich nur zwischen Gräser und leichte Äste hängen. Ihr Instinkt sagt ihnen, dass ein zwischen feste Objekte gespanntes Netz im Wind leicht zerreißen kann, während ihre Netze im Wind elastisch mit den Gräsern schwingen. 

Auch unser Leben ist immer wieder einem manchmal heftigen Wind ausgesetzt. Wenn unser Geist sich dann an das Feste klammert in der Hoffnung, es würde ihm Sicherheit geben, kann er irritiert und auch tief gestört werden. Das Feste ist das Gewohnte, in dem wir uns eingerichtet haben, das, was uns vertraut ist. Die täglichen Abläufe im Alltag, die Handgriffe, die wir blind ausführen, die Menschen, an die wir gewöhnt sind. Aber auch unsere Meinungen, Überzeugungen und Urteile, die mindestens so starr sind wie eine Mauer, die kluge Spinnen meiden. Die Zeiten des großen Windes sind die gefährlichsten in unserem Leben. Nichts scheint mehr so zu sein, wie es war. Wir müssen einsehen: Mein Urteil über dies und jenes erweist sich als völlig falsch. Der Mensch, dem ich vertraut habe, hat mich betrogen. Die Diagnose, die mein Arzt mir mitteilt, stellt mein Leben auf den Kopf. 

Unsere alten Strategien funktionieren nicht mehr. Jetzt ist es für unsere körperliche und psychische Gesundheit wichtig, dass unser Geist geschmeidig mitschwingt mit dem Sturm. Auch wenn unser Netz, anders als das der Spinne, nie zerreißen kann.

Das Netz der Spinne ist ihr Zuhause, sie hat kein anderes. Es ist sichtbar für alle aufgespannt und deshalb so gefährdet. Unser Zuhause ist in uns selbst verborgen; so verborgen, dass viele Menschen es noch nie betreten haben. Wir können nur dann vertrauensvoll mit den Stürmen umgehen, wenn wir in uns zu Hause sind. Gerade in Zeiten des Umbruchs, in denen wir das Gefühl haben, uns werde der Boden unter den Füßen weggezogen, können wir die Lehre des Buddha konkret erfahren. Im "Sutra über die Unterweisungen für Kranke", das in buddhistischen Klöstern oft rezitiert wird, heißt es:

"Dieser Körper bin nicht ich. Ich bin nicht gebunden an diesen Körper.
Dieser Geist ist nicht ich. Ich bin nicht gebunden an diesen Geist."

In dem Sutra ist mit "Geist" der persönliche Geist gemeint, mit den Gedanken, die Gefühle auslösen, die wiederum Gedanken erzeugen. In Krisen-Situationen erkennen wir, dass er zwar ein großartiges Instrument ist, mit dem wir das Leben erfahren, es aber in uns eine tiefere, größere Weite gibt, die weder Geist noch Körper ist. Diese Tiefe nannte Thich Nhat Hanh "dein Wahres Selbst". 

Wir können uns immer wieder mit unserem Wahren Selbst verbinden, indem wir mitten im Alltag innehalten und bewusst ein- und ausatmen, ohne den Gedanken zu erlauben, sich einzumischen. In dieser Tiefe begegnen wir einer wunderbar warmen, heilsamen und beruhigenden Stille. Es ist, als würden wir heimkehren; wir haben das Gefühl: Ach, da bist du ja, wer oder was immer du bist. Dich habe ich so lange gesucht, und dabei warst du doch immer bei mir. So nah.

Während der Sturm uns durchschüttelt, bewegt sich unser Geist geschmeidig mit. Lässt los, was nicht zu halten ist, nimmt an, was immer da kommt. Wir aber sind geborgen in unserem Netz, das nie zerreißen kann. Unserem Wahren Selbst.

In meinem Retreat "Erwachend leben" im Juli im Intersein-Zentrum kannst Du mit mir das Thema vertiefen. Alle Informationen findest Du hier (klick).

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Sonntag, 1. Juni 2025

Van Gogh in der Provence

 

Mitte März 1888 kommt ein von seiner Kunst besessener, aber erfolgloser Maler in Arles an. Vincent van Gogh ist müde und kränkelt, er braucht Licht und Sonne, für seine Bilder wie für sich selbst. "Das ist die Sonne, die niemals in uns eingedrungen ist, uns aus dem Norden", schreibt er enthusiastisch an seinen Bruder Theo. Er mietet - von Theos Geld - vier Zimmer in einem Haus an der Place Lamartine, dem "Gelben Haus". Dort möchte er eine Künstlerkolonie einrichten; ein "Atelier des Südens", in dem sich Maler gegenseitig inspirieren und gleichberechtigt miteinander arbeiten und ausstellen sollen. Aber nur Paul Gauguin folgt nach langem Zögern der Einladung, kauft allerdings nach seiner Ankunft in Arles hoffnungsvoll gleich zwanzig Meter Jute. Die beiden beginnen zu malen. "Das gelbe Haus" wird eines der bekanntesten Bilder van Goghs werden, der das Motiv sehr schwer fand: "Gerade deshalb wollte ich es erobern. Weil es furchtbar ist, diese gelben Häuser in der Sonne, dazu die unvergleichliche Frische des Blaus."



Der Garten des Hospitals in Arles


Viele Bilder entstehen, man versucht sich an denselben Motiven, und die Ergebnisse sind spannend in ihrer Unterschiedlichkeit. Aber beide sind schwierige Charaktere. Das Zusammenleben ist geprägt von Streit und Eifersucht. Vincent erleidet einen Nervenzusammenbruch, und am 23. Dezember 1888 endet der Versuch des gemeinsamen Lebens und Arbeitens auf dramatische Weise: Vincent schneidet sich ein Ohr ab. Erst vor wenigen Jahren tauchten die Zeichnungen des behandelnden Arztes auf und beweisen, dass er sich tatsächlich das ganze Ohr und nicht nur das Ohrläppchen abgeschnitten hat. Mit dem Ohr geht er in ein Bordell und schenkt es einer Prostituierten mit den Worten "Du wirst dich meiner erinnern, das sag ich dir". 

Der Aufenthalt in gelben Haus sollte eigentlich nur eine Zwischenstation sein. Vincent van Gogh imaginierte einen "Garten der Dichter", in dem er mit Gauguin wie Petrarca und Bocaccio Seite an Seite arbeiten würde. Den Garten, in dem er sich am Weihnachtsabend des Jahres 1888 wiederfand, sollte er zwar malen, aber die Umstände waren nicht wie geplant: Er gehörte zum örtlichen Krankenhaus von Arles, in das die Polizei Vincent van Gogh nach seinem Nervenzusammenbruch einlieferte.



Saint Paul de Mausole, das heute eine Psychiatrie für Frauen ist


Im Mai 1889 weiß Vincent van Gogh, dass er Hilfe braucht, und begibt sich freiwillig in das Kloster Saint Paul de Mausole in Saint-Rémy-de-Provence, das zu jener Zeit eine psychiatrische Anstalt ist. Der Arzt der Anstalt diagnostiziert eine Epilepsie "mit schlechter Prognose". Anfangs darf er den Garten nicht verlassen, aber trotz der sicher nicht angenehmen Behandlungen, für die die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts berüchtigt ist, gibt ihm die behütende Umgebung Halt: In seinem winzigen Krankenzimmer entstehen in dem einen Jahr, das er in Saint-Rémy verbringt, fast einhundertfünfzig Gemälde und zahlreiche Zeichnungen. Seine Mitpatienten interessieren sich nicht für den seltsamen Maler, und der Sohn des Klinik-Direktors hängt die bemalten Leinwände an den Baum und schießt begeistert mit Pfeil und Bogen auf die hübschen runden Sonnenblumen. 

An Theo schreibt Vincent, dass die Beobachtung der diversen "Verrücktheiten" seiner Mitpatienten ihn beruhige: "Ich habe gut daran getan, hierher zu kommen. Ich verliere dieses latente Grauen, die Furcht vor der Sache. Und nach und nach beginne ich die Verrücktheit als eine Krankheit wie jede andere zu sehen."





In Saint-Rémy, wie auch in Arles, sind überall Tafeln mit Bildern und Zitaten von van Gogh aufgestellt. Auf meiner kleinen Provence-Reise letzte Woche waren sie und die Geschichte dahinter das Bewegendste, das ich gesehen habe. Vincent van Gogh starb schließlich - da hatte er Saint-Rémy längst verlassen - an einer Kugel im Bauch. Niemand weiß, ob es Selbstmord war oder ob spielende Jungen die Pistole abgefeuert hatten (denn Vincent besaß keine). 

Aber was für ein wunderbares Werk hat dieser Künstler geschaffen, trotz seiner Krankheit. Sein Geist und sein Blick haben sich einfach erhoben über die körperlichen und irdischen Schwierigkeiten der Person. Das macht Mut. Und die geistige und spirituelle Kraft, mit der er seine Bilder gemalt hat, strahlt auf uns, die wir sie irgendwo in einem Land der Welt in einem Museum sehen dürfen, aus. 

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Samstag, 24. Mai 2025

Regenjazz



In der schwülen Stille zuerst ein leises Wisch-Wisch. Als würde ein Jazz-Percussionist mit den Besen über ein Becken streichen. Was für eine Musik soll das werden? Ein schwermütiger Blues, etwas Dunkles, das aus der Tiefe kommt und einen in die Tiefe lockt? Will man da hin, so antriebslos, wie einen die Hitze gemacht hat? Die Besen wischen schneller, ein Stick klopft auf etwas Tönernes (ein Instrument aus Afrika? der Südsee?), dann setzt eine gezupfte Saite ein, im Klang so etwas zwischen Gitarre und Cello. Eine straff gespannte Saite, sie wird doch hoffentlich nicht reißen? 

Der Percussionist legt Tempo zu, die anderen ziehen mit. Als Akzent schleicht sich leise im Hintergrund ein Patschen ein, als werde nasse Wäsche auf einem Stein ausgeschlagen. Ein Geräusch aus einer sehr fernen Zeit in einem sehr fernen Land. Der Wäscher prescht vor. Er patscht, der andere wischt, der dritte plingt. Aufregende Polyrhythmik entsteht, sie grooven sich ein, probieren ein Call and Response, einigen sich kurz auf eine Basis, aus der sie aber gleich wieder ausbrechen.

Und dann setzt endlich die Trommel ein wie eine Erlösung. Alles Bisherige war nur das Präludium, eine Vorbereitung auf das Eigentliche: den donnernden rasenden Wirbel. 

Das ist bester Free Jazz, von Könnern ausgeführt, und von den Menschen fällt im Handumdrehen die Trägheit der schwülen Tage ab. Sie eilen, sie rennen (regen: sich, Verb trans.; rege: sein, werden, Adj., Adv.). Bunte Schirme erblühen auf der Straße. Hunde zerren ihre Menschen hinter sich her, Radfahrer stülpen sich Plastiktüten auf den Kopf, Kinder hüpfen durch Pfützen. 

Der Wäscher aus dem fernen Land verabschiedet sich als Erster und sammelt seine Tücher ein. Der Trommler wischt zum Abschied noch mal lässig über das Becken. Und während die beiden davonbummeln, zupft und plingt der Saitenmusiker in allmählich versiegendem Rhythmus leise nach.

Stille.

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