Das Thema Hochsensibilität wird von den Medien immer öfter aufgegriffen, und ich bin jedes Mal glücklich, wenn diese Persönlichkeits-Eigenschaft, mit der ich selbst lebe, auf seriöse Weise dargestellt wird. Hochsensible - ich bevorzuge allerdings den Begriff Hochsensitive - haben ein hoch erregbares Nervensystem, das auf Reize schneller und intensiver reagiert als das von Nicht-Hochsensitiven. Wir vertragen im Allgemeinen keinen Lärm und andere grelle Sinnesreize, und ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt oder der Hauptbahnhof in der Ferienzeit ist für uns eine Herausforderung. Weil Hochsensitive viel allein sein müssen, um ihre Energien wieder aufzuladen, werden sie leider oft mit Autisten verwechselt. Wir sind aber geradezu das Gegenteil. Während ein Autist Mühe hat, die Gefühlsregungen anderer Menschen nachzuvollziehen, lesen wir jede Regung im anderen, reagieren auf jede kleinste Geste und schwingen uns empathisch in unsere Mitmenschen ein. Wobei wir leider oft vergessen, unsere Grenzen zu wahren, und uns damit heillos überfordern.
3sat hat jetzt einen besonders guten und fundierten Film vom ORF übernommen: "Wie Hochsensible die Welt wahrnehmen".
Interviewt werden Hochsensible aus allen Lebensbereichen: Eine Managerin, eine Beraterin, eine Musikerin, ein Künstler, eine Lehrerin, eine Schauspielerin und sogar ein Polizeidirektor. Wie nehmen sie die Welt wahr, wie leben sie? Philipp Yorck Herzberg, Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, bringt das Wesentliche auf den Punkt: "Die Kunst ist, die Nische zu suchen, die zur eigenen Persönlichkeit passt."
Jede und jeder zeigt in diesem Film das Symbol, das für ihn oder sie Hochsensibilität an besten repräsentiert. Wir sehen etliche Schmetterlinge, Muschel, Mimose, Meeres-Schildkröte, Bonsai und sogar einen Drachen. Ich verrate euch mein Symbol: Es ist die Katze. Wer je mit einer Katze gelebt hat, weiß: Sie sieht und hört alles, auch wenn sie scheinbar schläft. Sie hat ungeheuer feine Antennen für die Gedanken und Gefühle des Menschen, der ihr begegnet, und lässt sich durch keine netten Worte und kein Lächeln täuschen. Als Symbol für meine Hochsensibilität habe ich sie vor allem deshalb ausgewählt, weil sie wie ich eine Einzelgängerin ist, die Menschenmassen meidet, sich anderen nur sporadisch anschließt und am liebsten alleine und in der Stille auf leisen Pfoten ihrer Wege geht.
Der Film ist bis Mitte August in der 3sat-Mediathek zu sehen und lohnt das Anschauen (auch für Nicht-Hochsensible!): Hier (klick)
So, dies ist der Beitrag, der eigentlich am Internationalen Frauentag erscheinen sollte, aber Mary Bauermeister war mir wichtiger. Ich ehre also heute und jeden Tag die Weisen Frauen aller Zeiten, die unsere Ahninnen und Lehrerinnen sind. Die Priesterinnen im alten Griechenland, die Eingeweihten aller Kulturen, die Schamaninnen, Hellsichtigen und Heilerinnen. All jene, die man im Mittelalter Hexen nannte und verbrannt hat, weil sie Wissen um die unsichtbaren, feinstofflichen Welten hatten; ein Wissen, das man nicht in Schulen lernen kann. Dieses Wissen ist mächtig, weil es kraftvolle Veränderungen herbeiführen kann, und deshalb bedroht es die offiziellen Hierarchien der Welt, sodass sie es vernichten wollen. Heute wie damals.
Diese Frauen wurden ermordet, aber ihr Wissen lebt weiter: In den Kräuterfrauen auf den Dörfern, die wissen, wann sie welche Heilkräuter wo pflücken und in welcher Form sie diese verabreichen müssen. In den Ärztinnen, Therapeutinnen, Akupunkteurinnen und Hebammen, die still und ohne Aufhebens altes Frauenwissen anwenden und sich von der allopathischen Medizin nicht vereinnahmen lassen.
Ich ehre ganz persönlich die wunderbare, leider verstorbene Heilerin Pamela Sommer-Dickson, die mir die Ermächtigung für meine Arbeit gegeben hat. Und meine erste Homöopathin in München, eine knorrige hellsichtige Frau, die zwanzig Minuten lang in tiefem Schweigen in einem abgegriffenen Folianten blätterte, obwohl sie schon beim Hereinkommen ihrer Patienten wusste, welches Mittel diese brauchten; sie hat mich für immer von der Homöpathie überzeugt. Ich ehre die Aromatherapeutinnen, bei denen ich lerne, mit den kraftvollen ätherischen Ölen zu arbeiten, und die Myrrophorinnen, die "Hüterinnen der Öle", die mir die spirituelle Dimension der ätherischen Öle erschließen.
Ich ehre alle Frauen, die wissen, dass die Beherrschung des Geistes wahre Macht bedeutet, aber die Liebe die größte Kraft ist. Ich ehre alle Mütter, die intuitiv wissen, was ihre Kinder brauchen; alle Liebenden, die mit ihren Geliebten so tief verbunden sind, wie diese es nie begreifen werden; alle Lehrerinnen aller Bereiche, die ihre Erfahrungen großzügig weitergeben und in anderen Menschen Samen begießen, die zu großen starken Pflanzen werden; alle Pfarrerinnen und Dienerinnen aller Kirchen, die Missbrauch in den organisierten Religionen öffentlich machen. Ich ehre vor allem jene Künstlerinnen, die in sich wieder vereinen, was früher selbstverständlich zusammengehörte, aber für Jahrzehnte gewaltsam getrennt war: die Künstlerinnen, die mit ihrer Kunst transformieren, erwecken und heilen können.
Ich ehre alle Frauen, die sich nicht scheuen, darauf hinzuweisen, dass Krieg auf jeder Seite nur Verlierer hervorbringt und nie die Lösung ist für einen Konflikt. Die den Mut haben, Gewalt in öffentlichen Stellungnahmen abzulehnen, auch gegen die Empörung einer angeblichen Mehrheit. Stellvertretend für diese zitiere ich die frühere Grünen-Abgeordnete Antje Vollmer: "Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren,
einzigartigen und wunderbaren Planenten, der muss den Hass und den Krieg
gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption."
Ich ehre alle Frauen, die sich weigern, anderen Frauen weiterhin so zu begegnen, wie es uns allen beigebracht wurde: mit Neid und Eifersucht und Vergleich, mit Abwertung der anderen und Aufwertung der eigenen Person. Mit Augen, die in der anderen eine Konkurrentin sehen, weil das eigene Herz voll Angst und Unsicherheit ist.
Ich ehre alle Frauen, die so frei im Geist sind, dass sie anderen Frauen als Schwestern begegnen können.
Ich bin ja eine bekennende Hochsensible und habe schon viel darüber geschrieben. In der immer sehr empfehlenswerten Sendung "Leute" in SWR 1 war jetzt die Professorin Corina Greven zu Gast, die zum Thema Hochsensibilität forscht. Ich finde das deshalb so wichtig, weil die meisten Ärzte und Psychologen keine Ahnung von diesem Thema haben und uns nach wie vor als Gestörte ansehen, deren besondere Merkmale nach einer Therapie bitte zu verschwinden haben. Ich selbst habe meinem Arzt vor ein paar Jahren einen Stapel Informationsmaterial auf den Tisch gepackt. Er hatte nie vom Persönlichkeitsmerkmal "Hochsensibilität" gehört, aber er ist lernfähig (sonst wäre er nicht mein Arzt) und hat sich eingearbeitet.
Leider kann ich das Video nicht direkt auf den Blog stellen, deshalb hier (klick) der Link zur SWR-Seite. Es gibt ein Audio und, weiter nach unten scrollen, das Video der Sendung.
Als das Magazin der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit der Schauspielerin Nora Tschirner veröffentlichte, in dem sie offen über ihre Depression sprach, reizte das etliche Kommentatoren in den sozialen Medien zu einem Shitstorm. Von "unerträglich weinerlichen Prominenten" war die Rede, von Privilegierten, die "mal ordentlich arbeiten sollen". Davon, dass sich andere Leute "solche Empfindlichkeiten nicht leisten" könnten.
Diese Reaktionen zeigen, weshalb Depression so selten als Krankheit erkannt wird. Sie sind dauernd müde, essen nicht mehr, haben die Freude an allem verloren? Ihre Umgebung sagt Ihnen, jeder habe mal einen schlechten Tag, das ginge vorüber. Sie liegen am helllichten Vormittag im Bett? Sie hören: Jetzt reiß dich ein bisschen zusammen. Unternimm mal was Schönes. Wenn Sie nach zwei Monaten immer noch nicht funktionieren (und wenn Sie eine echte Depression haben, hat Ihr Abstieg in die Dunkelheit nach zwei Monaten gerade erst begonnen), gibt es richtig Ärger. Da haut der Vater mal ordentlich auf den Tisch, die Partnerin droht mit Trennung, der Partner verbringt seine Nächte woanders.
Wer glaubt einem schon eine Krankheit, die man nicht vorzeigen kann wie ein gebrochenes Bein? Die glauben Sie sich ja selber nicht. Sie schämen sich. Sie reißen sich, wie gefordert, zusammen. Sie üben für die Welt ein Lächeln ein, das Ihnen die Muskeln schmerzhaft zusammenzieht.
Ich habe gelesen, dass "Depression" das am meisten gesuchte Stichwort auf Google sei. Der Autor des Berichts fand diese Tatsache erschreckend. Mir macht sie eher Hoffnung. Ein enorm wichtiges Thema, das lange verschwiegen wurde, gerät zunehmend in den Fokus der Medien, denn immer mehr Prominente outen sich als depressiv. Da denkt man mal nach über sich selbst, da recherchiert man. Depressive sind nicht weinerlich, empfindlich oder zickig - sie sind klinisch krank.
Ich bin mit einer depressiven Mutter aufgewachsen und kann der depressionskranken Autorin Ronja von Rönne nur zustimmen: "Jeder, der Depressionen oder Angehörige mit Depressionen hat, weiß, dass es eigentlich ein Vollzeitjob ist. Es ist wahnsinnig anstrengend und kräftezehrend." Ich habe schon zwei Freundinnen in die Klinik begleitet und werde immer wieder einmal um Adressen von Therapeuten gebeten, die zumindest für ein Erstgespräch rasch zur Verfügung stehen.
Der erste und wichtigste Schritt ist, die Krankheit bei sich klar zu erkennen und zu benennen. Die Heilung beginnt mit dem Mut zur Wahrheit: Ich habe Depression.
Ich möchte etwas dazu beitragen, das Verständnis für diese Krankheit zu wecken und die Vorurteile als Fehlurteile zu enlarven. Sehr klar dargestellt und klug formuliert finde ich den Beitrag des Comedian Torsten Sträter. Für alle, die noch meine alte Google-Feed-Nachricht per Mail bekommen, in der keine Videos eingebettet werden, hier (klick) der Link.
Schön auch das Gespräch mit Ronja Rönne in der "Sternstunde Philosophie" des Schweizer Fernsehens; in den ersten dreißig Minuten spricht sie über ihre Depression und ihre Klinikaufenthalte: hier (klick).
Jede vierte Frau und jeder achte Mann, so die Statistik, erkrankt
mindestens einmal im Leben an Depression. Es gibt eine genetische
Disposition für diese Krankheit, aber im Allgemeinen bricht sie erst
aus, wenn sie getriggert wird. Es wundert mich nicht, dass gerade jetzt
das Thema Depression so aktuell ist. Wir leben mit einem Mega-Trigger:
Erst die Pandemie mit den langen Lockdowns, dann der Krieg, dessen
globale Auswirkungen uns erst allmählich bewusst werden. Dazu kommen die
bekannten Auslöser im privaten Bereich, vor allem Verlusterfahrungen -
Tod, Trennungen, Kündigungen, Umzüge, auch ernste Krankheiten. Und sogar
das, was andere Menschen als positiv erfahren, kann Depression
auslösen, zum Beispiel eine Heirat oder eine Geburt.
In der immer empfehlenswerten Sendung "Nachtcafé" des SWR gab es vor drei Jahren ein intensives Gespräch mit Betroffenen, in der auch von postpartaler Depression die Rede ist. (Ich kenne einige Mütter - meine gehört dazu -, die nach der Geburt ihres Kindes jahrelang unter Depressionen litten und sich nicht trauten, das zuzugeben. Eine Mutter hat sich gefälligst über ihr Kind zu freuen, sonst stimmt etwas nicht mit ihr.) Hier (klick) der Link für alle, die das Video in ihrem Feedreader nicht sehen.
Aber eine Depression muss nicht ausbrechen, wenn man mit den Triggern klug umgeht. Menschen, die eine Disposition zur Depression haben, müssen
noch sorgfältiger auf ihren Geist achten als andere. Die negative
Spirale, in die uns das gewohnheitsmäßige Grübeln hineinzieht, ist für
Depressive gefährlich. Es gibt zahlreiche Wege, diese Falle zu vermeiden. Vielleicht eine Gesprächstherapie, Musik-
oder Maltherapie, Yoga, Qui Gong. (Und natürlich die Achtsamkeits-Meditation, sagt die Meditationslehrerin ...)
Noch einmal hinweisen möchte ich auf meinen Beitrag in ethik heute, in dem ich mich mit der Installation "Zeige deine Wunde" von Joseph Beuys befasse. Depressions-Betroffene brauchen die Gewissheit, mit der Krankheit nicht alleine zu sein. Hier entlang.
Was hilft im akuten Fall? Der Hausarzt ist die erste Instanz. Er wird überlegen, ob ein Klinikaufenthalt sinnvoll ist, eine Medikation, vielleicht eine Psychotherapie. Seien Sie sanft mit sich selbst. Es gibt keinen Grund für Selbstvorwürfe. Sie haben nichts "falsch gemacht", nichts "versäumt". Sie sind krank, und kranke Menschen verdienen Fürsorge. Wenn die niemand anderes geben will oder kann: Sorgen Sie fürsorglich für sich selbst. Und gehen Sie sehr behutsam um mit allen Veränderungen und Erschütterungen in Ihrem Leben. Sie brauchen mehr Stabilität und Sicherheit im Alltäglichen als andere.
Schenken Sie sich schamlos egozentrisch alles, was Freude verspricht, Licht und Farbe in die Seele bringt. Lieben Sie Blumen? Her mit den Blumen! Musik? Gehen Sie ins Konzert! Feiner Tee? Kaufen Sie den besten. Spaziergänge am Fluss? Täglich! Wollen Sie mit einer Katze leben? Im Tierheim wartet man schon auf Sie.
Für andere Menschen sind diese Dinge eine hübsche Bereicherung ihres Alltags. Für Menschen, die eine Disposition zur Depression haben, sind sie lebenswichtig.
"Meine Grundschullehrerin war für mich eine furchterregende Person. Frau
Andersch redete so laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten
hätte. Unter ihren Schritten ächzten die Holzdielen, und wenn sie meine
Buchstaben auf der Schiefertafel nicht schön genug fand, war ich
tagelang verstört. Eines Tages befahl Frau Andersch meine Mutter zu sich
und eröffnete ihr, dass ihr Kind zu sensibel sei. „Das Kind“,
verkündete Frau Andersch, „muss sich dringend ein dickes Fell zulegen.“
Meine Mutter fand den Vorschlag im Prinzip nicht schlecht, war aber
ehrlich genug, um zuzugeben, dass sie eine ebenso dünne Haut hatte. Am
Abend saßen Mutter und Tochter am Tisch und fragten sich, wie man das
macht: sich ein dickes Fell zulegen."
So beginnt mein Beitrag "Sensibel im Schwebezustand"aus der Ursache\Wirkung Nr. 114. In ganzer Länge jetzt zu lesen hier (klick)
"Denn es erstaunt sie, wie die anderen Menschen das jeden Tag aushalten, was sie sehen und mit ansehen müssen. Oder leiden die andren nicht so sehr darunter, weil sie kein anderes System haben, die Welt zu sehen?" Denkt Miranda in der Geschichte "Ihr glücklichen Augen" von Ingeborg Bachmann, die selbst kurzsichtig war und sich lebenslang weigerte, eine Brille zu tragen. In meinem Seminar in Salzburg sagte ein Teilnehmer (herzliche Grüße, A., wenn Du hier mitliest), dass er dank seiner eingeschränkten Sehfähigkeit nicht immer alles so genau und scharf sehen müsse, was ja manchmal gar nicht so schlecht sei.
Das habe ich sofort verstanden, bin ich doch von Geburt an hochgradig kurzsichtig. Ich hatte damit kein Problem, aber meine Umwelt. In der Schule fiel ich gleich unangenehm auf, weil ich der Aufforderung, den Satz an der Tafel laut vorzulesen, nicht nachkam. Die Lehrerin wurde energisch und bestellte meine Mutter ein mit der alarmierenden Mitteilung: "Ihre Tochter hat schlechte Augen." Ich hatte gelernt, dass ein schlechtes Kind (die gab es damals zuhauf) ein böses Kind ist, also hatte ich wohl böse Augen, was mich sehr bedrückte. Ein Augenarzt wurde aufgesucht, und eine Woche später hatte ich eine Brille mit dicken Gläsern und blauem Gestell, obwohl mir das rote besser gefallen hätte. Meine Mutter war untröstlich; unvergessen ihre Bemerkung zu einer Nachbarin, während das bebrillte Kind daneben stand: "Womit habe ich es verdient, eine Brillenschlange zu haben?" Die Jungs in der Klasse johlten mir hinterher "Mein letzter Wille, ne Frau mit Brille!".
Solcherart sozialisiert, legte ich den Makel ab, als es endlich halbwegs vertrauenswürdige Kontaktlinsen gab. Auf einmal schaute die Umwelt auf mich mit Wohlwollen. Ich sah anscheinend endlich so aus, wie man es von einer jungen Frau erwartete. Für mich aber war es ein Schock. Ich fand mich in einer Welt der messerscharfen Kanten wieder, jedes Ding war klar vom anderen abgegrenzt, und ich war dieser Schärfe gnadenlos ausgesetzt, denn ich konnte nicht eben mal die Linsen absetzen wie früher die Brille. Die Brille war also ein Schatz gewesen, den ich nie gewürdigt hatte.
Seit ein paar Jahren trage ich die Kontaktlinsen nicht mehr. Jetzt habe ich wieder zwei Möglichkeiten, die Welt zu sehen. Scharf oder unscharf. Die Teile oder das Ganze. Ich kann mich jederzeit nach Belieben von der Schärfe der kantigen Welt erholen, wenn ich als Scharfblickende in ihr gerade nicht gebraucht werde. Kann die weichen Übergänge, die Verbundenheit, die
Vieldeutigkeit der Formen wahrnehmen. Nicht einmal die Farben sind in meiner anderen Welt egoman. Sie
behaupten nicht unbeugsam ihr Terrain, sondern fließen ineinander, vermischen
sich zu neuen Farbtönen, zu Gemeinschaftsnuancen, die sie als Einzelne nie hervorgebracht hätten.
Ich habe zwei scharfe und zwei sanfte Augen. Beide brauche ich. Keines der Paare könnte mir allein die Wahrheit über die Welt präsentieren. Die aus beidem besteht, dem Ganzen und seinen Teilen.
Miranda bei Ingeborg Bachmann: "... und im Wienerwald sieht sie nicht die Bäume, aber den Wald, atmet tief ..."
Wie finden wir jetzt die stimmige Balance zwischen Rückzug und Kontakt, zwischen unserem Wunsch nach Freiheit und der Verpflichtung zur Verantwortung für die Gemeinschaft? Es geht um mehr als um die Frage, mit wem und mit wie vielen Menschen wir Weihnachten und Silvester feiern sollen. Unsere Gefühle und Emotionen richten sich eben nicht nach Fallzahlen; wir haben Bedürfnisse und Sehnsüchte, die nicht in die verordneten Maßnahmen passen. Und wie soll das alles weitergehen, im nächsten Jahr, in den nächsten Monaten. Wir sind verunsichert.
Wie gut, dass wir verunsichert sind!
Das Magazin Ursache\Wirkung, für das ich regelmäßig schreibe, befasst sich in seiner neuen Ausgabe mit dem Thema "Balance finden". Hier ein kleiner Auszug aus meinem Beitrag "Sensibel im Schwebezustand", in dem ich erzähle, warum alle Menschen von uns Hochsensiblen lernen können, was Balance ist:
"Jeder Mensch muss sich mit dem Thema Balance auseinandersetzen. Während ein Hochsensitiver zu viel aufnimmt, bemerkt ein Nichthochsensitiver oft zu wenig. Wer die Emotionen seiner Mitmenschen übersieht, hat ein mindestens so großes Problem wie jemand, der von ihnen überschwemmt wird. Und dann verharrt man in einem Zustand der Unkreativität. In einem Rundfunk-Feature über den freien Willen sprach ich einmal mit dem inzwischen leider verstorbenen Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, der eine große Sympathie für den Buddhismus hegte. Er sagte, Lebendigkeit verlange, sich in Unsicherheit zu begeben, 'positiv ausgedrückt, in einen sensiblen Schwebezustand. Gerade dort, wo wir uns am unsichersten fühlen, sind wir am lebendigsten und kreativsten.'"
Gute Autoren beleuchten in der Ursache\Wirkung 114 das Thema Balance aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Lesenswert. Man findet das Magazin in gut sortierten Buchhandlungen oder hier (klick)
Ein Sommermorgen am See. Nur die Enten und ich im klaren Licht, das noch ungetrübt ist von den Abgasen der Lkw, die sich bald über die Landstraße schieben werden. Eine Stunde der Klarheit und Reinheit. Oder: Die erste Meditationsrunde an einem frühen Wintermorgen in einem meiner Retreats. Während wir sitzen, dämmert über den Bergen der Tag herauf, die Nacht weicht zurück, und das Licht füllt den Raum mit seiner Energie.
Als ich in den Bergen lebte, bin ich im Sommer um vier Uhr morgens über den Höhenweg gelaufen und habe die Kühe auf den Almen begrüßt. Am Morgen erwacht die Welt neu, alles erscheint möglich in der Klarheit und Stille. Die besten Texte schreibe ich zwischen fünf und acht Uhr; dann sind meine Gedanken luzide, die Sprache ist einfach und leicht.
Am Morgen sammle ich Licht für den Tag, diese lange Strecke bis zum Abend, die nicht immer leicht zu bewältigen ist. Ich sammle - wie ein Eichhörnchen Nüsse sammelt - Strahl für Strahl und fülle sorgfältig meinen inneren Lichtvorrat. Licht hat gegenüber Nüssen den Vorteil, sehr leicht zu sein; man kann es mühelos überallhin mitnehmen. Wenn der Tag mir dann besonders viel Lärm, Schmutz und Unfreundlichkeit beschert, erlaube ich meinem Geist, sich an dem Vorrat zu bedienen. Dann stehe ich vielleicht an irgendeiner belebten Straßenecke, um mich herum hupt es, Sirenen heulen, jemand brüllt seinen Hund an. Ich aber stehe im Geist am Ufer des Sees, in dessen klarem Wasser sich eine Ente auf einem Stein spiegelt. Im Licht.
Licht ist ansteckend; in diesem Fall ist das eine gute Nachricht. Man kann es nicht aufhalten, es fließt einfach hinaus, in den Lärm, den Schmutz, die Unfreundlichkeit. Manchmal verwandelt es die Unfreundlichkeit in Freundlichkeit, oft allerdings nicht - aber für den, der im Licht steht, ist das eigentlich gar nicht wichtig.
Wie gut, dass jeder Tag ein Ende hat, denn jetzt kommt die Zeit des Abendlichts. Es hat nicht die Klarheit und Schärfe des Morgenlichts; sein Wesen ist Sanftheit, seine Energie die der Umarmung. Am Seeufer quaken leise die Enten im Schilf; im Zendo sitzen wir bei Kerzenschein, während sich die Stille über die Stadt senkt. Das Abendlicht ist kostbar; ich sammle es für die besonderen Stunden, in denen ich seine beschützende Energie brauche. Stunden der Krankheit, der Trauer, des Abschieds.
Vergesst nicht, Licht zu sammeln. Wir brauchen viel davon, für uns selbst und für alle, die vergessen haben, was Licht ist.
Ich gehöre zu denen, die das Alleinsein nie lernen mussten. Schon als Kind floh ich, wenn Besuch da war, in eine stille Ecke, um mich mit meinen verzauberten Schwestern zu unterhalten, die für andere nichts weiter waren als die Stöckelschuhe meiner Mutter. Mit fünf Jahren wurde das "arme Einzelkind" in den Kindergarten gebracht. Um es kurz zu machen: Es war eine Katastrophe. Die anderen Kinder tobten und bewarfen einander mit Bauklötzen. Ich hätte gern von meinen verzauberten Schwestern erzählt, aber niemand wollte es hören. Der Versuch, das Kind mit der Anwesenheit anderer Kinder zu erfreuen, wurde nie wiederholt.
Meine Lieblings-Schriftsteller lieben alle das Alleinsein. Wahrscheinlich sind sie deshalb auch meine Lieblings-Schriftsteller.
"Ein Wochenende ohne Reden, sogleich in tiefes sicheres Bücherlesen versunken, und dann Schlaf: klar, durchsichtig: und der ganze Garten grüne Tunnels, Wälle von Grün: und dann erwachen in den heißen stillen Tag, und nie ein Mensch zu sehen, nie eine Störung." VIRGINIA WOOLF
"Zweieinhalb Tage war ich allein, und schon bin ich, wenn auch nicht verwandelt, so doch auf dem Wege. Das Alleinsein hat eine Kraft über mich, die nie versagt. Mein Inneres löst sich und ist bereit, Tieferes hervorzulassen. Eine kleine Ordnung meines Inneren fängt an, sich herzustellen, und nichts brauche ich mehr." FRANZ KAFKA
"In-sich-Gehen und stundenlang niemandem begegnen - das muss man erreichen können. Einsam sein, wie man als Kind einsam war, als die Erwachsenen umhergingen, mit Dingen verflochten, die wichtig und groß schienen, weil die Großen so geschäftig aussahen und weil man von ihrem Tun nichts begriff." RAINER MARIA RILKE
"Der Wind lief durch die sich beugenden braunen Gräser und rührte die Wipfel der grünen Bäume. Ich blickte auf die dunkle Masse der Wälder jenseits der Brennerei, auf jene Hügel im Süden von uns, und es wurde mir klar, dass ich unter Menschen einsam bin, wenn ich aber allein bin, so bin ich nicht mehr einsam." THOMAS MERTON
"Diese Freude, allein zu sein: Was ist das? Ich fühle mich so fröhlich, ruhig und friedlich - das ganze Haus scheint aufzuatmen. Das Mittagessen ist fertig. Ich habe ein gebratenes Ei, Aprikosen und Sahne, Käsesticks und schwarzen Kaffee. Wie köstlich! Der Kater bekommt einen Löffel Rahm - dann versteckt er sich unter den Sofafransen und streckt ein Pfötchen aus nach meinem Finger. Es ist niemand im Haus - und doch - woher kommt das Flüstern? Winzige Goldflecken auf den Treppenstufen - winzige Fußspuren ..." KATHERINE MANSFIELD
Dies ist ein kurzer Auszug aus meinem Feature "Allein und doch nicht einsam" für SWR 2, das leider nicht mehr in der Mediathek steht.
Vielleicht gerade jetzt wichtig: Ein schönes Buch über die Stille: hier (klick)
Mehr über Introvertierte und Hochsensible: hier (klick)
Manchmal hat man nur ein bescheidenes Blümchen im Herzen, aber was für ein schönes!
Im September habe ich einen Text über Hochsensibilität gepostet - hier (klick)kann man ihn lesen. In ihm habe ich geschrieben:
"Niemand ist so leidenschaftlich an Menschen interessiert wie
ein Hochsensibler oder Introvertierter.
Da stehen wir mit riesigen Blumensträußen in unseren Herzen, bereit, sie zu
verschenken. Aber das werden wir - ich weiß, wie vielen es genauso geht -
niemals zu erkennen geben."
Jetzt hat Simon einen Kommentar dazu gepostet, der so schön ist, dass ich ihn hier mit seiner Erlaubnis wiedergebe.
***
"Da stehen wir mit riesigen
Blumensträußen..." daraus habe ich eine kleine Übung gemacht. Aber was
mache ich mit all den Blumen? Abends wären sie vielleicht schon verwelkt. Ich
überlegte mir, sie zu verschenken. Jede Blume könnte ein „Ich mag dich“
bedeuten.
Ich probierte es aus, sie tagsüber zu verschenken. Was sich aber leicht anhört,
empfand ich als schwierig. Am Abend wurde mir klar, dass der Tag anstrengend
gewesen ist. Ich habe im Geiste nur ein paar Blumen verschenkt, an Leute, die
ich mag. Alle anderen gingen leer aus, ohne Blumen.
Ein paar Tage später stand ein Besuch im Altersheim an, Demenzabteilung. Da
gingen meine Blumen weg wie warme Semmeln. So viele erwartungsvolle Gesichter,
die sich über ein Lächeln und eine Begrüßung freuten. So beglückt bin ich noch
nie aus dem Altenheim gekommen. (Vielleicht ein Rückzugsort?)
Ein paar Tage später merkte ich, dass ich mit dem falschen Fuß aufgestanden
bin. Was für eine miese Laune. Also beschloss ich, mir für jeden negativen
Gedanken eine Blume zu schenken. Mittags waren fast alle Blumen weg und die
Laune hatte sich gebessert. Die restlichen Blumen schenkte ich den negativen
Gedanken der anderen.
Wenn ich darüber schreibe, wird mir klar, wie stark solche
Visualisierungsübungen wirken können. Diese Übung machte mir bewußt, wie
wichtig es ist, unseren Alltag mit so einer Übung phantasievoll zu gestalten,
kreativ zu sein und auf die Intuition zu hören."