Samstag, 22. Juni 2019

François Cheng: "Fünf Meditationen über die Schönheit"



Seit ich dem Zen begegnet bin, denke ich darüber nach, wie man das Anliegen des Zen und die Erfahrungen, die es ermöglicht, auch anders ausdrücken könnte: als eine Kunst des Lebens, die weder den Buddhismus noch irgendeine andere Religion benötigt, nicht einmal den Begriff "Spiritualität", so dass "Zen" letztendlich auch keine "Praxis" wäre. Meine Bücher sind der Versuch einer solchen Umformulierung. Deshalb bewegt mich die Arbeit des 1929 in China geborenen und später in Frankreich lebenden Schriftstellers, Philosophen und Kalligrafen François Cheng sehr. In poetischer Sprache verbindet er die fernöstliche Philosophie mit dem abendländischen Denken; das Ergebnis ist betörend schön, und man spürt ohne Zweifel: Das ist die Erfahrung einer Wahrheit, die aus der Ganzheit kommt. 

"Wenn man plötzlich angesichts einer Naturszene, eines blühenden Baumes, eines Vogels, der unter Schreien auffliegt, eines Sonnen- oder Mondscheins, der einen Moment des Schweigens erhellt, auf die andere Seite der Szene gleitet, jenseits des Vorhangs der Phänomene, hat man den Eindruck einer Anwesenheit, die wie von selbst da ist, zu sich kommt, ganz, ungeteilt, unerklärlich und doch unleugbar; wie ein großzügiges Geschenk, das bewirkt, dass alles da ist, wundersam da, und ein Licht verbreitet in der Farbe des Ursprungs und einen vertrauten Gesang von Herz zu Herz, von Seele zu Seele murmelt."

Das Zen würde dies eine Erfahrung der Erleuchtung nennen.




Für die chinesischen Philosophen, für Cheng (und das Zen) ist das Universum selbst Bewusstsein, es ist ein intelligentes Sein, das den Menschen braucht, um sich auszudrücken: "Die Schönheit der Welt ist ein Ruf, im konkretesten Sinn des Wortes, und der Mensch, das Sprachwesen, antwortet darauf von ganzer Seele. Es ist, als ob das Universum, wenn es sich denkt, auf den Menschen wartet, um ausgedrückt zu werden."  

François Cheng spricht auch über den Atem (die grundlegende Praxis des Zen) und über "Intersein", die wechselseitige Verbundenheit alles Seienden. Als Poet und Philosoph, ohne religiöse Begriffe zu bemühen. Denn das Thema dieses schmalen, aber unermesslich reichen Buches ist ganz schlicht: die Schönheit. Große Lese-Empfehlung!


Mit Dank an Simon.




François Cheng "Fünf Meditationen über die Schönheit", aus dem Französischen von Judith Klein. C. H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-64526-6

Donnerstag, 13. Juni 2019

Thich Nhat Hanh: Unterstützende Bedingungen


 ... auch wenn's stürmisch wird im Leben: es ist eine unterstützende Bedingung ...


"Unterstützende Bedingungen sind von zweierlei Art: in dieselbe Richtung und in die entgegengesetzte Richtung. Wenn alles problemlos und glatt läuft, dann ist es in dieselbe Richtung. Doch manchmal sind die Bedingungen auch dergestalt, dass sie die Situation schwieriger gestalten. Manchmal begegnen Sie auf Ihrem Pfad auch Hindernissen. Vielleicht werden Sie krank, und ein Kollege macht Ihnen das Leben schwer. Doch dank der Schwierigkeiten können Sie transformiert und stärker werden. So sind auch diese letztlich unterstützende Bedingungen, auch wenn sie zunächst als Hindernisse erscheinen.

Es gibt Kiefern, die in den Bergen in sehr nährstoffarmer Erde wachsen. Die Samen haben nur sehr wenige Nährstoffe, um zu sprießen und zu wachsen. Doch aufgrund dieser Schwierigkeit hat die Kiefer die Chance, sich tief im Boden zu verwurzeln und sehr stark zu werden, sodass ein Sturm sie nicht so leicht entwurzeln kann. Hätte die Kiefer es nur mit für sie einfachen Bedingungen zu tun, dann hätte sie nicht so tief Wurzeln getrieben und sich im Boden verankert, und ein starker Wind könnte sie leichter umstürzen. Manchmal helfen uns Hindernisse und Schwierigkeiten dabei, erfolgreich zu sein.

Einen Kollegen, mit dem Sie Probleme haben, können Sie als unterstützende Bedingung ansehen, selbst wenn er Ihnen eher als Hindernis erscheint. Er lehrt Sie etwas über Ihre eigene Stärke. Praktizierende sollten stark genug sein, um beide Arten unterstützender Ursachen annehmen zu können: die, die in dieselbe Richtung, und die, die in die entgegengesetzte Richtung weist."

Thich Nhat Hanh

(Aus: Thich Nhat Hanh "Die Heilkraft buddhistischer Psychologie", aus dem Englischen von Ursula Richard, Goldmann Verlag, ISBN 978-3-442-22015-1)



Freitag, 7. Juni 2019

Alle Wesen sind erleuchtet


Alle Wesen sind erleuchtet.

Meine Auslegung von "Pfingsten".

Ich wünsche Euch leuchtende Feiertage.


Mittwoch, 29. Mai 2019

Himmels-Fahrt mit Monteverdi



Weil der Mai hienieden auf Erden so kalt ist.

Weil es ein schönes Lied ist.

Weil mein Chor es gerade für das nächste Konzert probt.
 (Emmendingerinnen, schon mal notieren: Konzert-Matinee am Sonntag, 13. Oktober!)

Kommt gut in den Himmel morgen.


Freitag, 17. Mai 2019

"Fridays for Future" und "Wochenende der Freude"


Der Snowmonkey ist noch nicht ausgestorben ...

Ich bin von einer Leserin ein wenig gerügt worden wegen meiner Posts, die so viel "heile Welt" enthielten. Ob ich mich nicht mal mit der Klimaerwärmung befassen wolle, ob mir die Initiative "Fridays for Future" bekannt sei?

Dann befasse ich mich also mal. Und ergänze, dass es inzwischen auch Parents for Future, Teachers for Future, Artists for Future, Writers for Future und vermutlich weitere gibt. Über die ich informiert bin, weil ich täglich die Online-Ausgaben von Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und Guardian lese (bester Journalismus, große Empfehlung). Deshalb bewegen mich noch ganz andere Themen, und alle empfinde ich als persönliche Fragen an mich und meinen Lebensstil.

Als Näherin und Strickerin bin ich mir zum Beispiel der Qual der Angorakaninchen beim Scheren und der Schmerzen der Kaschmirziegen bewusst, wenn ihnen brutal die Haare ausgerissen werden, um die Welt mit billigen Kaschmirpullovern zu versorgen. Um 1 kg Baumwolle zu ernten, werden weltweit 11.000 l Wasser benötigt. Um Seide zu gewinnen, werden die Kokons mit den lebenden Raupen in kochendes Wasser geworfen. Für Viskose wird in Indonesien der Regenwald abgeholzt, und das neuerdings gepriesene Modal, aus Buchenholz gewonnen, könnte zu einem massiven Raubbau an unseren Buchenwäldern beitragen. Es gibt Antworten darauf, und je nach Situation wähle ich eine davon. Einen Biostoff kaufen, Altes umarbeiten, Secondhand kaufen, gar nichts mehr kaufen.

Ich ernähre mich biologisch, weil ich die Bienen, Wespen und Käfer und meine Gesundheit erhalten will. Aber ich muss mich fragen, ob ich die Umwelt mit einer Autofahrt schädigen soll, um im 9 km entfernten Bioladen Kartoffeln, Karotten und einen Salat zu kaufen, oder zum Supermarkt um die Ecke gehe, wo das Biogemüse nur in Plastik eingeschweißt verkauft wird. Ein Lebensstil, der kein Leiden erschaffen und Schaden verhindern will, ist voller Fragen, die täglich neu beantwortet werden wollen. Soll ich mein Buch bei meinem Buchhändler in der Stadt kaufen (mit der Bahn kostet das 4,30 EUR und einen ganzen Nachmittag, mit dem Auto verschmutze ich die Luft) oder es lieber online bestellen und den Arbeitstag des schlecht bezahlten Hermes-Boten mit meinem Paketchen verlängern? Was wiegt mehr: die Umweltbelastung durch den Langstreckenflug oder die Erweiterung meines geistigen Horizonts durch die Erfahrung einer anderen Kultur?




... und die sind auch nicht ausgestorben ...


Für eine bewusste Lebenshaltung gibt es keine einfachen Antworten. Es gibt kein Handbuch, in dem man nachschlagen könnte, keine Regeln und keine Gebote. Es gibt nur uns selbst mit unserer genauen Wahrnehmung dessen, was die Situation in diesem Moment erfordert, und unserem Mut, Verantwortung für unsere Entscheidungen zu übernehmen.

Ich weiß aber auch, dass bei uns Depressionen, Zukunftsangst und Resignation zunehmen. Und dass Menschen, die ihre Freude am Leben verloren haben, ihrer Umwelt genauso viel Schaden zufügen wie die Firma Monsanto. Deshalb möchte ich hier ein kleines Gegengewicht bieten zu all den Problemen, von denen die Medien ohnehin ständig reden. Auch das ist eine Haltung "zum Wohle aller Wesen", wie es der Buddhismus so schön ausdrückt. Und auch dies ist buddhistisch: Das Heilsame ist im Unheilsamen bereits enthalten.

Deshalb rufe ich auf zu einem Wochenende der Freude über all das, was noch nicht ausgestorben ist, noch da ist, lebt, atmet, duftet, summt und brummt. Die Meisen, Rotkehlchen, Amseln und Spatzen, die Katzen, Hunde, Pferde, Wespen, Glühwürmchen, Fliegen, Bienen (auf dem Balkon die "Bienenmischung" pflanzen!), die Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Pilze, die Mohnblumen, Akeleien, wilden Orchideen, Narzissen, Tulpen, Maiglöckchen, Rosen, Hortensien ...

Die Liste darf unendlich ergänzt werden.


Sonntag, 12. Mai 2019

Leuchtender Tag


"Wenn Tag und Nacht so sind, dass man sie freudig begrüßt, und das Leben nach Blumen und frischen Kräutern duftet, wenn es federt, strahlt, unsterblich ist - das ist der Erfolg. Die ganze Natur beglückwünscht dich, und du hast guten Grund, dich für diesen Augenblick glücklich zu preisen. Die größten Reichtümer und Werte werden am wenigsten geschätzt. Wir sind nur zu leicht bereit, an ihrer Existenz zu zweifeln, und vergessen sie schnell. Sie aber sind die höchste, die eigentliche Wirklichkeit. Die verblüffendsten Tatsachen werden in ihrer ganzen Realität kaum jemals von Mensch zu Mensch mitgeteilt. Die wahre Ernte meines täglichen Lebens ist etwas so Unberührbares, so Unbeschreibliches wie die Himmelsfarben am Morgen oder Abend; sie ist eine Handvoll eingefangenen Sternenstaubs, ein Stückchen Regenbogen."

Henry David Thoreau
"Walden" 

Mittwoch, 8. Mai 2019

Regentag

 

Auch als Wasserpflanze überlegt man sich an solchen Tagen, ob man nicht lieber den hauseigenen Schirm hochklappt und drinnen bleibt. Wasser von oben ist ja etwas anderes als Wasser von unten. Vor allem, was von oben kommt, muss man sich als Wasserpflanze hüten. Scheren, Fußbälle, Hagelkörner und pflückende Hände haben schon ganze Ahnenreihen vernichtet. Kürzlich geriet die Familie einer Kusine ins Blickfeld einer rudernden Geburtstagsgesellschaft, die schon ausgiebig gefeiert hatte. Die arglos auf dem Wasserspiegel Treibenden wurden als Geburtstagsstrauß unter Johlen aus dem Schlamm gerissen, in den Bug geworfen und verstarben auf dem Weg zum Ufer. Besser den Schirm heute fest geschlossen halten.

Dienstag, 30. April 2019

Die Tempelkatze. Zum 'Tag der Arbeit'.


Ein Mann hatte einst eine Maus im Haus. Die Maus zerlegte systematisch das halbe Haus, nagte Kissen und Pantoffeln an, fraß die Vorräte in der Speisekammer. Der Mann stellte eine Falle auf, legte Käse hinein, aber die Maus war klug und mied die Falle. Der Mann kaufte eine Lebendfalle. Die Maus machte einen großen Bogen um das Ding. Der Mann streute Gift. Die Maus ließ es unberührt. 

Ein Freund lieh dem Mann seine Katze aus. Die Katze erblickte die Maus, die gerade blitzschnell in einem Loch verschwand, und raste los. Sie wirbelte durch das Haus, kratzte an den Möbeln herum, bis sich Splitter lösten, schlug ihre Krallen in die Kissen, dass die Federn flogen, und warf in der Speisekammer die Vorratsgläser vom Bord. Der Mann sagte verärgert zu seinem Freund: "Diese Katze macht mir mehr Ärger als die Maus", und gab die Katze zurück.

Da empfahl ihm ein anderer Freund, die Katze aus dem nahe gelegenen Zen-Tempel zu holen. Der Mann glaubte nicht an die Tempelkatze, aber einen letzten Versuch wollte er noch wagen. Ein Mönch brachte die Katze. Es war ein riesiges Tier, ziemlich dick, das sich gleich auf einem Kissen niederließ. Dort blieb die Katze mehr oder weniger in den nächsten Tagen liegen. Döste vor sich hin, aß ein wenig, döste weiter. Der Mann beschloss, die nutzlose Katze so schnell wie möglich loszuwerden. 

Die Maus hatte währenddessen bemerkt, dass von dieser Katze keine Gefahr ausging. Sie begann frech und vergnügt, wieder herumzustöbern und tanzte der Katze vor der Nase herum. Die blinzelte gelangweilt und döste weiter vor ihrem Napf mit Huhn in Gelee. Die Maus schlich sich heran. Huhn mit Gelee, das war doch besser als Pantoffeln und Federkissen. Verwegen tauchte die Maus ihre Schnauze in den Napf. Da sauste blitzschnell die Pranke der Katze herab. Ein Hieb genügte. 

Die Katze gähnte und schlief wieder ein.

(Ich wünsche Euch allen einen entspannten 'Tag der Arbeit'. Und einen stets klaren Blick, der erkennt, wann es an der Zeit ist, eine Maus zu töten. Eine reale oder eine symbolische.)

Sonntag, 21. April 2019

Japan #3: die Aufmerksamkeit


Ich stehe in einer öffentlichen Toilette in Tokio, habe mir die Hände gewaschen und finde weder ein Handtuch noch einen Lufttrockner. Noch weiß ich, die Touristin, nicht, dass die kleinen Handtücher, die überall verkauft werden, genau dieser Situation dienen. Neben mir eine Japanerin, die meine hilflosen Blicke bemerkt, in ihre Tasche greift und mir lächelnd und mit einer Verbeugung ihr blütenreines gefaltetes kleines Handtuch reicht.

Eine Frau aus meiner Gruppe vergaß ihren Schirm im Taxi. Als wir Stunden später zum Mittagessen in unserem Restaurant eintrafen, wurde ihr der Schirm überreicht. Eine Bekannte von mir verlor vor ein paar Jahren auf ihrer Rundreise die Handtasche. Als sie auf der Polzeistation gerade dabei war, den Schaden zu melden, kam ein Japaner zur Tür herein mit ihrer Handtasche. Nicht ein Yen fehlte.

Ich bin in Japan einer einzigartigen Kultur der Aufmerksamkeit und Fürsorge begegnet, die ich in keinem anderen Land der Welt erlebt habe.


Traditionelles Dinner in der Tempelherberge Fukishi-in

Im Shinkansen verbeugt sich die Schaffnerin, bevor sie ein Abteil betritt. Wenn sie es verlässt, dreht sie sich um und verbeugt sich erneut. Die Taxifahrer tragen weiße Handschuhe und haben ihre Sitze mit weißen Spitzenbezügen bespannt. Die Speisen werden so ästhetisch angerichtet, dass man sie kaum anrühren mag. Für den Hotelgast liegt der Yukata mit den Pantoffeln bereit, der Wasserkocher mit Teebeuteln und Kaffee. Die Toilettensitze sind beheizt (ich gebe zu: die japanischen Toiletten vermisse ich). Es ist die Genauigkeit und Schönheit im Allerkleinsten, die mich immer wieder begeistert. Und geradezu glücklich machen mich die Menschen, die leise, höflich und liebenswürdig sind. Man nimmt wahr, was gebraucht wird, und bezieht den anderen in seine Wahrnehmung mit ein. 

Bevor ich fuhr, las ich ein Buch über das zeitgenössische Japan. Der Verfasser machte sich gleich auf den ersten Seiten über westliche Menschen lustig, die nach Japan fahren, um das Zen zu suchen, denn das Zen spiele keinerlei Rolle im japanischen Alltag. Ich sehe das anders. Das formale Zen mit seiner stundenlangen Meditation im Zendo mag für die meisten Japaner unwichtig sein. Sie brauchen es auch nicht, denn der Zen-Geist ist überall im Land lebendig. 

Die klare Wahrnehmung, das Handeln aus der Erfordernissen des Augenblicks heraus. Die Wertschätzung alles Lebendigen und Schönen. Die Präzision und Genauigkeit. All dies belegen wir in westlichen Ländern mit dem Begriff "Zen" und bemühen uns darum, machen eine "Praxis" daraus und stellen fest, wie schwer es doch ist, unsere sozialen und emotionalen Prägungen zu transformieren.


Ich weiß um die Probleme des Landes. Die stets präsente Erdbebengefahr, die dazu führt, dass jedes Haus alle 30 Jahre abgerissen wird, um nach den neuesten Erdbeben-Standards wieder aufgebaut zu werden. Die Überalterung, der gnadenlose Konkurrenzdruck. Der Zwang, weit ins Pensionsalter hinein zu arbeiten, um die karge Pension aufzubessern (unsere Taxifahrer waren fast ausnahmslos alte weißhaarige Herren). Ich weiß, dass ich mir meine Pakete in einem präzisen Zeitfenster bis 22 Uhr liefern lassen kann, und dass der Paketbote dafür nur den Mindestlohn von 800 Yen erhält, was etwa 6 EUR entspricht. Ich habe gesehen, wie die makellos sauberen Hotelzimmer geputzt werden: Von fünf Mitarbeitern gleichzeitig, die in Windeseile auf dem Boden herumrutschen, jede Ecke polieren und vermutlich sehr dankbar sind, diesen Job überhaupt zu haben. Und ich weiß, was es mit den Gesichtsmasken auf sich hat: Ein japanischer Arbeitnehmer kann es sich nicht leisten, banale Krankheiten wie eine Erkältung zu bekommen, denn jeder Fehltag wegen leichter Krankheit wird ihm vom ohnehin nur 10 Tage dauernden Urlaub abgezogen.

Ich weiß das alles und liebe dieses Land dennoch.

Mein Herz ist nach Hause gekommen.

Ich hoffe, es hat Euch Freude gemacht, mir mir ein wenig durch Japan zu reisen.

Donnerstag, 18. April 2019

Japan #2: die Religion


 Bettelmönch in Ginza, Tokyo

Der Shintoismus - im Westen wird er als "Naturreligion" bezeichnet - ist allgegenwärtig in Japan. Ein roter Schrein an besonders schöner landschaftlicher Stelle ist fast immer ein Shinto-Schrein. An den Shinto-Schreinen geht es lebhaft zu. Viele Jugendliche tummeln sich dort, ziehen sich gegen eine Spende ein Orakel und lesen einander aufgeregt kichernd die Antwort vor. Verheißt das Orakel Positives, wird es mitgenommen. Ist man nicht einverstanden mit der Verheißung, hängt man den Zettel an den dafür vorgesehenen Ständer und übergibt das Orakel den Göttern. Diese sind zahlreich, freundlich und ausgesprochen lebensbejahend. Keine Lehre, die den Gläubigen zu etwas verpflichtet, keine strengen Rituale - kein Wunder, dass fast jeder Japaner ein unbeschwertes Verhältnis zum Shintoismus hat.



Es heißt, dass für Geburt und Heirat der Shintoismus zuständig ist, für den Tod der Buddhismus. Und da ich die strenge Zen-Ästhetik mit ihren Schwarz- und Naturtönen lieber mag als Rot und Gold, freute ich mich auf den heiligen Berg Koya-san, der über 100 buddhistische Tempel beherbergt und Okunoin, den größten Friedhof Japans.



Was für ein mystischer Ort. Unter uralten Zedern verwittern Grabsteine, mit Moos bepolstert. In absoluter Stille wandelt die Pilgerin (also ich) zum Heiligtum, dem Mausoleum von Daio Kokushi. Der Begründer des Shingon-Buddhismus soll dort seit 1184 Jahren in ewiger Meditation verweilen. In der atemberaubend schönen Laternenhalle brennen 10.000 Laternen Tag und Nacht und auf Ewigkeit. (Fotografieren leider, aber verständlicherweise verboten.) Und immer wieder leuchten im Waldesdunkel die roten Mützchen und Lätzchen der Jizo-Figuren auf. Jizo (im Zen bekannt als der Bodhisattva Kshitigarbha) gilt als Schutzgott der gestorbenen Kinder (ganz nebenbei auch: der Reisenden). Nach der japanischen Mythologie leben die Seelen gestorbener Kinder in einer Zwischenwelt. Jizo soll sie über den mythologischen Fluss geleiten, und damit Jizo ihr Kind auch findet, binden japanische Eltern den Figuren persönliche Lätzchen der Kinder um.



Was aber ist Shingon-Buddhismus? Da musste ich Wikipedia bemühen. Daio Kokushi, erfuhr ich, lehrte die Möglichkeit der Erleuchtung für jeden in diesem Leben, im Gegensatz zur damals herrschenden Auffassung, nach der man Äonen praktizieren musste. Das klingt zwar sehr nach Zen, ist es aber nicht. Die Erleuchtung im Shingon nämlich kann nur erlangt werden nach einer vorherigen Einweihung in geheime Lehren, die in einem Ritual vollzogen wird. Shingon ist, im Gegensatz zum Zen, eine Religion.



In unserer Tempelherberge bekamen wir ein köstliches veganes Abendessen serviert, und morgens um sechs nahm ich am Ritualgebet der Mönche teil. Die Gästezimmer ganz traditionell mit dem Futon auf Tatami-Matten, dem Yukata (Hausmantel) für den Onsen (das Badebecken mit sehr heißem Wasser) - und einem Fernseher. Nun ja,  auf dem Berg ist abends nichts los, das WLAN höchst unzuverlässig, man will sich seine kostbaren zahlenden Gäste nicht vergraulen ...

Wo aber versteckt sich eigentlich das Zen?


Ich habe acht Jahre im japanischen Zen praktiziert. Eine sehr wichtige Zeit für mich, für die ich immer dankbar sein werde. Ich habe aber auch erlebt, dass dem Titel Roshi, der einst eine hohe Stufe der Verwirklichung bezeichnete, die in langer mühsamer Praxis erworben und bestätigt werden musste, nicht immer zu trauen ist. In japanischen Tempeln wird der Titel Roshi zumeist vererbt vom Vater auf den Sohn, und die "Einführung in Zen" für Touristengruppen ist eine einträgliche Geldquelle (eine Stunde mit anschließender Tasse Tee für 5000 Yen pro Person, hörte ich - Irrtum vorbehalten, aber unwahrscheinlich). Ganz sicher gibt es noch Tempel, in denen ernsthaft Zen praktiziert wird. Ich habe sie nicht gesucht. Auch aus erwähnten Gründen habe ich mich einst entschlossen, mich Thich Nhat Hanh anzuschließen, diesem tief aufrichtigen Mönch und Meister.

Aber all dies ist im Grunde völlig unwichtig. Denn im Zen geht es um etwas anderes, und dieses Andere ist in Japan lebendig. Ein wenig mehr dazu im dritten und letzten Teil meiner Japan-Serie.