Mittwoch, 27. Dezember 2017

Raunächte und die durchlässige Zeit


"Was immer wir an diesen Festtagen tun - es kann zu Arbeit werden, oder wir verwandeln es in Spiel. Es liegt an uns. Solange wir nur an den Zweck denken, arbeiten wir. Aber wenn wir uns von der Bedeutung dessen, was wir tun, ergreifen lassen, spielen wir. Arbeit ist auf ein Ziel ausgerichtet, das außerhalb ihrer selbst liegt, aber Spiel hat sein Ziel in sich selbst. Wenn wir spielen oder singen, suchen wir keinen anderen Zweck als das Spielen oder Singen. Oder tanzen wir, um ein Ziel zu erreichen?

Die keltische Spiritualität spricht von "durchlässigen Orten", wo der Schleier zwischen dieser Welt und einer anderen durchscheinend ist. Es gibt auch "durchlässige Jahreszeiten", und jetzt ist eine von ihnen da. Können Sie in diesen Tagen das Große Geheimnis erspüren, die Bedeutung von allem jenseits eines sehr, sehr feinen Schleiers? Lasst uns das feiern: Lasst uns spielen! Nur wenn wir spielen, feiern wir wahrhaftig. Manche Feiern haben vielleicht einen weiteren Zweck, aber nur, wenn ihr Hauptzweck das Feiern um seiner selbst willen ist, bleiben sie bedeutsam. Wer feiert, spielt - aus keinem anderen Grund als dem, zu spielen." 

Bruder David Steindl-Rast


***

Spielen wir mit Fragen in den Raunächten, in denen der Schleier zwischen dieser Welt und der anderen sehr, sehr fein ist.

Welches Geheimnis bringt die Katze mit von ihren einsamen nächtlichen Pfaden?
Welche Botschaft hat die Schneeflocke für mich, die auf dem Fensterbrett schmilzt?
Wohin will mich der Zug tragen, der mit hell erleuchteten Fenstern unten durchs Tal fährt?
Wer ist es, der die Wipfel der Tannen bewegt, obwohl kein Wind geht?
Wie kann ich die Sterne leuchten sehen, wenn da scheinbar nur Wolken sind?

Weil es so viele wichtige Fragen gibt und jetzt die Zeit zum Spielen ist, schweigt mein Blog bis zum Ende der Raunächte. 

Feiert schön. Nicht "etwas". Einfach: feiern.

Samstag, 23. Dezember 2017

Frohe Weihnachten


Der Heilige Abend ist für mich etwas Besonderes. Da er dieses Jahr auf einen Sonntag fällt, wird der Wechsel von Geschäftigkeit zu Stille nicht so spürbar sein. Und doch ist die Stille, die mit der Dämmerung kommt, am Heiligen Abend eine andere. In meiner Straße gehen Menschen mit verpackten Geschenken zu Besuchen, in den evangelischen Kirchen beginnen die Christvespern, an den Bäumen in den Wohnungen werden die Lichter entzündet. Um acht Uhr abends sind nur noch ein paar Hunde unterwegs, mit ihren Menschen an der Leine. 

Und dann kommt es, leise und sacht, dehnt sich aus, lässt sich nieder. Das, was so wenig Platz findet in unserem Alltag, bekommt jetzt seinen Raum. Die tiefe Stille. Das Heilige.

An Weihnachten wird ja zumeist das Kind besungen, aber ich erinnere hier an die Mutter, ohne die es kein Kind gegeben hätte, auch wenn die Weihnachtsgeschichte nur eine Metapher ist. Das großartige SWR Vokalensemble singt "Maria durch ein Dornwald ging".

Allen meinen Blogleserinnen und Bloglesern ein wunderschönes Weihnachtsfest!

Sonntag, 17. Dezember 2017

Ein paar Buchempfehlungen für Weihnachtsgeschenke


Falls Sie noch Weihnachtsgeschenke suchen sollten: Hier stelle ich ein paar Bücher vor, die ich in diesem Jahr gern gelesen oder wiedergelesen habe und die man nicht auf Bestseller-Listen findet.

Ilija Trojanow "Nach der Flucht", S. Fischer Verlag. Trojanow ist als Kind mit seiner Familie aus Bulgarien geflohen. Sehr persönlich erzählt er von seinen Erfahrungen als Geflüchteter und stellt fest: "Die Flucht wirkt fort, ein Leben lang." Meine Rezension in SWR 2 hier (klick)

Peter Handke "Gestern unterwegs", Verlag Jung und Jung. Die Journale von Peter Handke sind meine Lieblingsbücher, in denen ich immer wieder ein paar Zeilen lese. Handke ist ein Wahrnehmungs-Künstler, und wie er seine Wahrnehmungen Sprache werden lässt und dabei an jedem Wort, ja an jedem Buchstaben feilt, ist für mich als Autorin große Inspiration.

Klaus Merz "Helios Transport", Gedichte, Haimon Verlag. Genaue Beobachtungen, kluge Gedanken, reduzierte Sprache: Die Gedichte von Klaus Merz werden oft als Haiku bezeichnet, denn wir haben in Deutschland keine Tradition des kurzen Gedichts. Warum das so nicht stimmt, hören Sie in meiner Rezension in SWR 2 hier (klick)

Jean-Marc Ceci "Herr Origami", Hoffmann und Campe. Ein alter Origami-Künstler irgendwo in der Toscana, ein junger Uhrmacher, der eine Uhr konstruieren will, die alle möglichen Zeitmessungen abbilden soll: Jean-Marc Ceci hat ein Zen-Buch geschrieben, in dem nach dem Wesen der Zeit und der Erinnerung gefragt wird. Meine Rezension ist produziert, aber noch nicht gesendet. Ich versichere: Ein leises philosophisches Buch, anspruchsvoll und doch leicht zu lesen.


Colum McCann "Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?", Rowohlt Verlag. Colum McCann begleitet einen alten Mann in den letzten Stunden seines Lebens, und wie er das macht, ist große Literatur. Denn McCann lässt seine Figuren aus der Sprache entstehen und schaut ihnen zu, wie sie sich entwickeln. (Und das allein ist literarisches Schreiben - die Geschichte ist nicht so wichtig.) Wir wissen von Anfang an, dass der alte Mann ermordet werden wird, und doch ist dies kein Krimi. Ein Buch für Kenner und Liebhaber von Literatur! Meine Rezension in SWR 2 hier (klick)

Thomas Melle "Die Welt im Rücken", Rowohlt Berlin. Thomas Melle schreibt über seine manisch-depressive Erkrankung, und wie er das macht, ist für mich bewundernswert: Mit Klarheit und Distanz, ohne Schuldzuweisung (auch nicht an sich selbst) und doch so intensiv, dass es beim Lesen manchmal wehtut. Ein hartes, genaues Buch, das ich uneingeschränkt empfehle, denn es zeigt auch, dass Literatur imstande ist, im Chaos so etwas wie Struktur zu finden. Leider ist meine Rezension aus der Mediathek verschwunden. Aber es gibt andere Besprechungen im Web. Ist jetzt vielleicht nicht unbedingt als Weihnachtsgeschenk geeignet ...

... aber dies hier: Mariana Leky "Was man von hier aus sehen kann", Dumont Verlag. Wenn die alte Westerwälderin Selma von einem Okapi träumt, stirbt anschließend jemand im Dorf. Wer das nun sein wird und was bis dahin geschieht und auch später und überhaupt, erzählt Mariana Leky spielerisch und mit großer Sprach-Freude. Ein Buch voller Wärme, und ganz versteckt gibt es auch ein paar buddhistische Weisheiten. Nicht rezensiert, aber gern gelesen.

Und jetzt einen Tee machen, den Plätzchenteller neben das Sofa stellen, die Leselampe anknipsen und lesen.


Donnerstag, 14. Dezember 2017

Frau Irgang bäckt: köstliche Mini-Lebkuchen

Es sind die kleinen schwarzen Häufchen auf den Oblaten

Beste Weihnachts-Nascherei, nach einem Rezept meiner Freundin Dagmar:

100 gr Marzipanrohmasse (unbedingt in Bio-Qualität, geschmacklich lohnt sich das)
200 gr gemahlene Haselnusskerne
100 gr Rohrohrzucker
60 gr Preiselbeerkonfitüre
3 Eiweiß
2 TL Lebkuchengewürz
1 TL gemahlener Zimt
1 Messerspitze Hirschhornsalz
Backoblaten
80 gr Zartbitterkuvertüre und 80 gr dunkle Kuchenglasur

Marzipan klein schneiden, mit allen Zutaten außer der Schokolade mit dem Handrührer glatt rühren. Mit zwei Teelöffeln Häufchen auf Oblaten setzen. Bei ca. 180 Grad etwa 15 Minuten backen. Auskühlen lassen. Im Wasserbad Kuvertüre und Kuchenglasur schmelzen, die Lebkuchen kopfüber hineintauchen. Fest werden lassen.

Gut verstecken, sonst sind sie nächste Woche aufgegessen.


Montag, 4. Dezember 2017

Das magische Leben


"Wenn du Freiheit wählst, wird das Leben magisch. Das Leben, das du dann führst, ist eins, in dem das Selbst in verborgener Übereinkunft mit deiner Menschlichkeit ist. Das Selbst beginnt, mit deinem Leben zu harmonisieren, und dein Leben könnte sich auf eine Weise entwickeln, die du nie hättest vorhersehen können. Das Magische daran ist, dass sich das umso besser anfühlt, je mehr du loslässt. Je tiefer du in die Unsicherheit gehst, umso mehr bemerkst du, wie sicher und beschützend sie ist. Das, was du gerade verlassen hast, war unsicher. Die Menschen fühlen sich so elend, weil sie Sicherheit suchen in Dingen, die begrenzt sind, sich unablässig bewegen und auf unvorhersehbare Weise verändern."

Adyashanti

(In diese Richtung bewege ich mich jetzt mal. Damit Leben ins Leben kommt. Und die Magie wieder spürbar wird. Wo draußen doch alles in eisiger Kälte erstarrt ist, und solch eine Kälte - man muss da sehr aufmerksam sein! - gern leise und unbemerkt nach innen kriecht. Und da gehört sie nun wirklich nicht hin.)

Habt es alle schön warm!

Montag, 20. November 2017

Jetzt wieder bei Rowohlt: Mein allererstes Buch


Als der Rowohlt Verlag freundlich bei mir anfragte, ob man mein 1981 erschienenes Buch "Einfach mal ja sagen" in die neuen Reihe "repertoire", die erfolgreiche vergriffene Rowohlt-Bücher neu auflegt, mit aufnehmen dürfe, war meine erste Reaktion: Auf keinen Fall! Mein erstes Buch, vor siebenunddreißig Jahren geschrieben. Das ist doch nicht mehr relevant, zeitgemäß, interessant. Für mich nicht und deshalb für die Leser nicht.

Dann las ich das Buch noch mal. Und war verblüfft: Es war interessant, es war - trotz aller Zeitbezogenheit - zeitlos. Es war witzig, ich musste oft lachen. Ich mochte es.

Aus dem Klappentext: "'Man sucht mit zwanzig, mit dreißig weiß man, was man will', sagt Mama.' Hier erzählt eine Frau, der es umgekehrt ergeht und die es sich trotz Mama, trotz gerunzelter Brauen in sämtlichen Freundesgesichtern leistet, mit dreißig die achtbare, maßvoll kreative Karriere hochzuklappen und noch einmal suchen zu gehen; vor allem, zur eigenen Rundum-Unlust ja zu sagen - auszusteigen oder daneben zu steigen. Erst einmal reist sie ab: nach Griechenland, wo die Vernünftigen aus der Heimat ihr komisch-vernünftige Besuche abstatten. Aber letztlich spielt sich die Reise nicht auf der Landkarte ab."

Es ist eine GESCHICHTE. Kein Sachbuch, keine Autobiografie - reine Literatur. Einmal stand eine Leserin in München vor meiner Tür und wollte sich mit mir bei einem Tässchen Kaffee darüber unterhalten, dass sie Vassilios auch kennt, mit meiner Darstellung seiner Person aber nicht einverstanden sei. Fast verzweifelt war ich, wenn Bekannte ausriefen: "Aber deine Mutter ist doch ganz anders!" Oder, misstrauisch: "Wer ist denn Felix? Den hast du doch erfunden, oder?" So ist es. Alles und alle handelnden Personen mit Lust erfunden. (Ein bekannter Kollege erzählte mal, er habe einem seiner Ich-Erzähler einen Hund angedichtet. Bis heute würden die Zuhörer bei Lesungen ihn fragen: "Wie geht es denn Ihrem Hund?")

Meine Leser der Zen-Bücher müssen jetzt also ihren Lese-Modus umschalten. Aber die Grundaussage des Buches ist nicht erfunden, und weil die mir bis heute wichtig ist, habe ich der Veröffentlichung zugestimmt: "Wer seine Träume lebt, lässt sich nicht mehr einsperren. Träume brauchen Luft, um sich zu entfalten."

Die nun also 8. Auflage von "Einfach mal ja sagen" gibt es gedruckt (als print on demand, das erspart Rowohlt Lagerkosten) oder als e-book direkt bei Rowohlt: https://www.rowohlt.de/taschenbuch/margrit-irgang-einfach-mal-ja-sagen.html


Dienstag, 14. November 2017

Frau Irgang kocht: Kartoffelküchlein mit Avocado-Topping


Meine ersten sesshin machte ich bei einem japanischen Mönch, der erst vor Kurzem aus seinem Kloster in Japan nach Deutschland gekommen war. Er veranstaltete einmal im Monat ein zazenkai, das ist ein ganzer Tag mit Sitzen und Gehen im Schweigen, unterbrochen von einem kurzen Mittagessen. Jeder von uns brachte etwas Feines fürs Büfett mit. Wir luden also unsere Teller voll, setzten uns auf unsere Kissen, der sensei schlug die Hölzer zusammen, peng!, und sprach den Tischspruch. Den ich in voller Länge nicht mehr weiß, aber ein Satz verfolgt mich bis heute: "Wir essen nicht, um zu genießen, wir essen, um Erleuchtung zu erlangen." Der sensei lebte noch im Kloster-Modus und schlang sein Essen hinunter, klappte die Hölzer zusammen, peng!, und wir erhoben uns hungrig mit halbvollen Tellern. Wahlweise satt mit Magendrücken.

In meinen Seminaren darf das Essen ausdrücklich genossen werden. Gerochen, beguckt, geschmeckt. Ich selbst bin begeisterte Köchin und Esserin. Und es gibt für mich keine Trennung zwischen dem Aushöhlen einer Avocado, dem Zwiebelhacken und Kartoffelstampfen und dem Sitzen auf dem Kissen. Im zendo nennen wir es Meditation. In der Küche nennen wir es Kochen.

Eins meiner Lieblingsrezepte, schnell und ganz einfach. Und ganz einfach köstlich:

Für eine hungrige Person (also ich) oder als Imbiss für zwei:

Ca. 1 Pfund mehlig kochende Kartoffeln in der Schale kochen. Abkühlen lassen, pellen und in einer Schüssel zerdrücken.

1 reife Avocado entsteinen, zerdrücken und mit Zitronensaft beträufeln.

1 große Zwiebel fein hacken, in etwas Kokos- oder Rapsöl weich dünsten. 1 Esslöffel schwarze Senfsamen in die Pfanne geben, kurz mitbraten. Einen gehäuften Esslöffel der Masse über die Avocado geben. Den Rest mit ein wenig gemahlenem Kurkuma kurz in der Pfanne braten und über die Kartoffeln geben. Gut vermischen, kräftig salzen und pfeffern. Kleine Küchlein formen und in sehr wenig Öl in der Pfanne mehr erwärmen als braten (die Küchlein zerfallen bei zuviel Öl). Die Avocadomischung kräftig salzen und pfeffern. Jedes Küchlein mit einem Klacks des Toppings servieren.

Die Avocado-Mischung esse ich auch manchmal abends auf getoastetem Brot. 

 

Die Grundidee für dieses Rezept - ich habe die Gurkenpickles weggelassen - stammt aus dem ersten Buch meiner Lieblingsköchin. Ich kann ihre Kochbücher nur wärmstens empfehlen. Alles vegetarisch, vieles vegan, vieles mit kleiner Änderung glutenfrei zuzubereiten. Alles schmeckt großartig.

Anna Jones "a modern way to eat", Mosaik Verlag
  


Montag, 6. November 2017

Wenn einer geht


Wenn einer geht - muss doch etwas bleiben? Von ihm, von ihr? Was bleibt? Und wo?

Ein lieber Freund ist gegangen. Und doch ist er da, hier, bei mir, in dem, was wir Erinnerung nennen. Er kommt mir entgegen in einem der schmalen Gänge im Biomarkt. Er beugt sich im Rietbergmuseum in Zürich neben mir über die Postkarten und wählt ein paar aus; andere als ich. Er spricht über das Singen von hohen Tönen und schickt mir per E-Mail den entscheidenden Satz für alle Sänger: "Also, verwurzeln wir uns!" Er erzählt mir in einem Rundfunkstudio von seiner Verehrung Albert Schweitzers. Er nimmt mich beim Wort, befragt meinen Satz, prüft die Genauigkeit meines Denkens. Um ihn ist klare Denkluft; Ungenauigkeit und Verschwommenheit hat da keinen Platz. Religion wird kritisch betrachtet. Aber er sagt den Satz: "Was mich überzeugt, ist das Konzept der Achtsamkeit."

Ohne zu leben ist er lebendig und wird erst sterben, wenn ich sterbe. Er ist lebendig in den vielen Menschen, denen er begegnet ist, privat und beruflich, auf je eigene Weise, in einer jeweils anderen Rolle. Und wird erst sterben, wenn sie sterben. Er ist lebendig für meine Freundin, die seine Frau ist. Ist, nicht war.

Gute, Reise, lieber U. Ich verabschiede Dich mit einem Gedicht von Thich Nhât Hanh, den Du geschätzt hast.

Heute morgen wirst du gehn

In den kommenden Tagen wird
der silbrige Himmel erfüllt sein
vom Brausen der Phönixflügel
in unergründlichen Höhen

Wellen von weißem Silber
verbergen die Pfeiler des Stegs
Sonne ruft die Vogeljungen
aus ihrem Schlaf des Gestern
in die Zeit des Jetzt

damit sie dir Lebewohl sagen können
wenn du heimkehrst
an den Ort der langen Flüsse
und weiten Meere

Thich Nhât Hanh

(Übersetzung: Margrit Irgang) 


Dienstag, 31. Oktober 2017

Winterreise

 

Winterreise


Drängender pfeifen die Züge
die Drachen steigen
der Baum macht sich frei

Morgens lesen die Vögel
in den Blättern es ist Zeit
zu gehn

Margrit Irgang







Aus diesem schönen Buch, das 12 Gedichte enthält, für jeden Monat eins; leider ist es nur noch antiquarisch erhältlich: Margrit Irgang "Leuchtende Stille". Verlag Herder. ISBN 978-3-451307324

Montag, 16. Oktober 2017

Die Kunst, Entscheidungen nicht zu treffen


Eine meiner größten Schwächen ist es, eine Entscheidung zu treffen. Dies oder Jenes? Hier oder Dort? Was ist richtig? Was ist nachhaltig? Was wird auch noch in einem Monat richtig sein, in einem Jahr? All diese Möglichkeiten! Die so viel Unsicherheiten mit sich bringen.

Es gab ein paar wichtige Entscheidungen zu treffen. Ich saß da und dachte nach. So viele Alternativen. Keine überzeugte mich. Aus dem Nachdenken wurde ein Grübeln. Was erzähle ich in meinen Seminaren immer? "Du bist nicht deine Gedanken, du bist der weite Raum, in dem sie aufsteigen." Ich war kein Raum mehr, ich war eine Besenkammer. Die Gedanken hatten mich im Klammergriff.

Aha.

Ich stand auf, öffnete meinen Vorratsschrank und holte Mehl, Sonnenblumenkerne und Backpulver heraus. Quark und Eier aus dem Kühlschrank. Die Rührschüssel. Das Handrührgerät. Brötchenbacken ist eine fabelhafte Möglichkeit, die innere Besenkammer zu verlassen. Irgendwann duftete es in der Wohnung; ich hatte inzwischen die verwelkten Blätter auf dem Balkon aufgefegt und die Bettwäsche gewechselt.

Die Brötchen schmeckten super. Vorher hatte ich aber zum Telefon gegriffen und drei Telefonate erledigt. Alles klar. Alles entschieden.

Ich war einfach aus dem Weg gegangen. Einen Schritt beiseite, damit die Energie, die alles und auch uns durchströmt, von meiner Grübelei nicht blockiert wird. Diese Energie des Absoluten, der schon viele Bezeichnungen gegeben wurden (deshalb benenne ich sie nicht), bringt uns in Einklang mit der Wahrheit des Augenblicks. Wir fließen wieder mit, wir sind kein Felsblock mehr, an dem der Fluss abprallt. Wir wissen auf einmal, was zu tun ist. Ganz selbstverständlich. Und wir tun es.

Ich nenne es die Kunst, Entscheidungen nicht treffen.