Freitag, 24. Juli 2015

Was tust du, wenn du nicht weißt, was du tun sollst?


"You know what I do when I don't know? I know one thing: I know it's simply not the time to know. So I relax. I don't even try to know. And what you find is you know exactly when you need to know and not one second sooner. That's how it is. And it's not just for me. It's for everybody. The only question is, how much struggling do you do in-between. So sometimes it's just not the moment to know. And that opens you up to a real sensitivity. It's easier for life to get through to you. Because you're listening instead of desperately trying to know."

Adyashanti

"Weißt du, was ich tue, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll? Ich weiß nur eins: Ich weiß, dass es einfach nicht die richtige Zeit ist, um zu wissen. Also entspanne ich mich. Ich versuche nicht einmal, zu wissen. Und dann stellt sich heraus, dass du es in genau dem Moment weißt, in dem du es wissen musst, und nicht eine Sekunde früher. Genau so ist es. Und nicht nur für mich, sondern für jeden. Die Frage ist nur: Wie sehr kämpfst du in der Zeit dazwischen? Also, manchmal ist es einfach nicht an der Zeit, zu wissen. Und das öffnet dich in eine wahre Sensibilität. Es ist leichter für das Leben, zu dir durchzudringen, weil du jetzt lauschst und nicht mehr verzweifelt versuchst, zu wissen."

Adyashanti

Dienstag, 14. Juli 2015

SWR 2: Muße


Heute schon in der Hängematte gelegen? Mit einem Kind Seifenblasen gepustet? Die Katze gestreichelt, dem Hund Stöckchen geworfen? Einen langen Spaziergang gemacht? Ein Gedicht gelesen? Noch mal gelesen? Einen Eiskaffee getrunken, mit zwei Kugeln Vanilleeis? Gestern der Erde dabei zugeschaut, wie sie sich von der Sonne wegdreht, und klar gesehen, dass die Sonne deshalb keineswegs untergeht?

Nein? Dann wird es Zeit, mein Feature zum Thema Muße zu hören, fünfundzwanzig Minuten lang.

Zum Begriff "Muße" weiß der Duden Interessantes zu berichten:

"Die nur deutsche Substantivbildung Muße ist eng verwandt mit dem unter müssen behandelten Verb und gehört mit der Sippe von messen zu der umfangreichen Wortgruppe von 'Mal, Zeitpunkt'. Das Wort bedeutete ursprünglich etwa 'Gelegenheit oder Möglichkeit, etwas tun zu können'."

"Müssen" ist also die große dicke Schwester der kleinen unbeachteten "Muße". Die große Schwester zwingt uns offenbar kollektiv zum Schreiben zahlloser E-Mails in immer kürzeren Zeitabständen, lässt uns so viele Erledigungen, Erlebnisse und Pflichten in unsere Zeit pressen, wie das gerade noch möglich ist. Wussten Sie, dass sich das Aufführungstempo klassischer Musik in den letzten Jahrzehnten enorm beschleunigt hat? Und ich durfte noch vor wenigen Jahren Eineinhalb-Stunden-Sendungen für den SWR machen - eine Länge, die man dem Hörer heute nicht mehr zumuten will.

Über all dies habe ich mich für ein SWR-Feature unterhalten mit dem Soziologen Professor Hartmut Rosa, dem Künstler Alfred Bast und der Journalistin Gerlinde Knaus. Wir kamen zu dem Schluss, dass Muße kein Selbstzweck ist, sondern lebenswichtig: Unsere oft wahllos in unsere kostbare Zeit gestopften Erlebnisse müssen zu Erfahrungen werden, um uns wirklich zu verwandeln - und das erfordert regelmäßige schöpferische Pausen. Ich meine, wir sollten uns wieder auf den Muße-Begriff der Antike besinnen, wo die Muße einen hohen Stellenwert hatte: Erkennen und Einsehen galt damals als Lebensweise. Das können wir übrigens heute von den Künstlern, Dichtern und Philosophen lernen. Was tun diese, wenn sie Inspiration brauchen? Sie legen sich in die Hängematte, pusten Seifenblasen, streicheln die Katze ....


"Muße. Plädoyer für das schöpferische Innehalten". Feature von Margrit Irgang. Hier ist der Link zum Anhören der Sendung in der Mediathek.

Freitag, 10. Juli 2015

Sechs Mönche des Sera Jey Ngari Khangtsen streuen ein Sandmandala


Das Sera Jey Monastery in Karnataka ist eines der ältesten tibetischen Flüchtlingskloster in Südindien. Sechs seiner Mönche streuen seit Anfang dieser Woche im Tibet Kailash Haus in Freiburg ein traditionelles Sandmandala. 

Es ist warm und still. Geshe Lobsang Tashi, Geshe Nawang Zangpo und Ngarampa Thupten Nyima beugen sich über das Podest und schütten das vorgezeichnete Muster mit farbigem Sand auf. Hochkonzentriert und entspannt zugleich. Sie haben keine Eile. Das Kunstwerk wächst stetig, morgen, am Samstag, wird es fertig sein. Circa zwei mal zwei Meter, ein Mandala, das den universellen Frieden ausdrückt und erschaffen wird mit dem Wunsch, diesen Frieden zu verbreiten.


Westliche Kunst entsteht aus dem Individualismus und feiert ihn. Östliche Kunst dagegen - die tibetische wie auch die japanischen Zen-Künste Kalligrafie, Tuschemalerei und Ikebana -ist überpersönlich. In langen mühsamen Lehrjahren hat sich der Künstler, die Künstlerin, so geschult, dass nicht das Ego, sondern die uns allen innewohnende Weisheit und strahlende Stille den Pinsel führt, den Sand schüttet, die Blumen steckt. Ein solches Kunstwerk zu betrachten ist Meditation: Weisheit und Stille strahlen auf den Betrachter zurück.

Und doch ist ein Kunstwerk nur für den Augenblick gemacht, eine Manifestation der unablässigen Veränderung alles Seienden. Als Zeichen dafür wird das fertige Sandmandala morgen, Samstag, mit einem Ritual aufgelöst und gegen 18 Uhr in einer Zeremonie der Dreisam übergeben, dem kleinen Freiburger Fluss, der nie aufhört zu fließen.

Morgen von 15 bis 20 Uhr wird im Tibet Kailash Haus ein Sommerfest aus Anlass des 80. Geburtstags des Dalai Lama stattfinden. Mehr darüber unter diesem Link.                                                                              

Samstag, 27. Juni 2015

"Wunderbare Unvollkommenheit"

Foto: Verlag Herder

"Yehudi Menuhin sagte einmal: 'Leben heißt Geige spielen zu lernen, während man ein Konzert gibt.'

Warum üben Sie Zen? Glauben Sie, eines Tages perfekt zu sein, erleuchtet, ein 'guter Mensch' (was immer Sie sich darunter vorstellen)? Was machen Sie mit Ihrem Leben in der Zwischenzeit? Wie gehen Sie um mit all der Unvollkommenheit, die Sie trotz Ihres Bemühens immer noch an sich bemerken? Verdrängen Sie Ihre Wut, ignorieren Sie Ihren Neid, verstecken Sie Ihre Habgier, Ihre Unsicherheit, Ihre tausend Ängste?

Wenn wir Zen üben, bekommt unser sorgfältig gehütetes Selbstbild Risse, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es eines Tages ganz zusammenbrechen wird. Wir stellen fest, dass wir nicht der dynamische, erfolgreiche, beliebte Typ sind, der in unserer Gesellschaft so gut ankommt. Wir sind nicht die Mischung aus Karrierefrau, liebevoller Mutter, guter Hausfrau und leidenschaftlicher Geliebter, die uns in einer Fernsehserie so imponiert. Das zuzugeben ist uns peinlich, und wir tun alles, um die Peinlichkeit zu überdecken. Wir ziehen in eine andere Gegend, verwenden viel Sorgfalt auf unsere Garderobe, treten einem Club bei und melden unsere Kinder in einer besseren Schule an.

Wenn wir Glück haben, geht uns eines Tages die schlichte Tatsache auf, dass es keinen Ort auf dieser Welt gibt, an dem wir uns verstecken können, und dass Verstecken auch nicht notwendig ist. Denn den anderen Menschen geht es ganz genauso wie uns. Wir alle lernen Geige spielen und führen währenddessen miteinander ein Konzert auf, das so schräg, schön und grauenhaft ist, dass wir, hätten wir wahrhaft offene Ohren, abwechselnd schaudern, jubeln und lachen müssten. Und jeder, wirklich jeder, hört, wenn wir danebengreifen.

Rauft sich ein Geiger die Haare, wenn ihm das passiert? Wirft er den Bogen in die Ecke, brüllt er sein Publikum an, bricht er das Konzert ab? Nein, er spielt einfach weiter. Der Augenblick unseres Fehlgriffs ist nur ein Augenblick, vergangen auf Nimmerwiedersehen. In diesem Augenblick aber gelingt uns ein wunderschöner Ton, der alle aufhorchen lässt."

(Aus: Margrit Irgang "Wunderbare Unvollkommenheit. Das Zen-Buch der Lebenskunst". Herder Verlag, ISBN 978-3-451-06740-2)

Montag, 22. Juni 2015

David Steindl-Rast on Silence



Bruder David Steindl-Rast (geboren 1926) ist ein österreichischer Benediktiner-Pater, der intensiv Zen studiert hat bei diversen Meistern und heute abwechselnd in Österreich und seinem Kloster in den USA lebt. Er hat durch seine eigene Praxis erkannt, dass die spirituellen Traditionen der Weltreligionen eine gemeinsame Tiefe teilen. Wann immer ich die Gelegenheit habe, besuche ich einen Vortrag von ihm. Ihn zu hören und zu erleben, ist Meditation: Die innere Stille, in der er lebt, entfaltet sich, der Saal wird zum weiten Raum, und Hunderte Menschen bekommen eine Ahnung davon, was Meditation ihnen geben könnte.

For my English speaking readers I chose a video in English.

"When you really go deep inside you come in contact with something that goes beyond words. I cannot really describe it, I would speak of a vast wideness, openness, something like the desert, the sand dunes with the starry sky by night."

"Wenn Sie wirklich in die Tiefe gehen, kommen Sie in Kontakt mit etwas, das jenseits von Worten ist. Ich kann es nicht richtig beschreiben. Ich würde es eine immense Weite und Offenheit nennen, etwas wie die Wüste, die Sanddünen mit dem sternbesetzten Himmel bei Nacht."

Von David Steindl-Rast gibt es zahllose empfehlenswerte Bücher auf Deutsch.

Dienstag, 16. Juni 2015

Thich Nhât Hanh: "Meine wahre Natur" (2. Teil)


Thich Nhât Hanh hatte also im Alter von 36 Jahren eine Erfahrung seiner wahren Natur, und solch ein Erlebnis geht nicht spurlos vorüber. Heute, 50 Jahre später, können wir erkennen, dass seine Arbeit von dieser Erfahrung geprägt ist: "Sangha" als Gemeinschaft der Praktizierenden ist die Praxisform in seiner Intersein-Schule - als gelebter Ausdruck für die Nicht-Dualität, das Nicht-Getrenntsein von allem, was ist.

Was Thây damals erfahren hat, geschieht heute immer mehr Menschen, auch wenn die Einzelheiten der Erfahrung ganz anders sein mögen, gefärbt von der Individualität des Einzelnen und seinem eigenen Weg. Offenbar ist aber die Zeit reif für die kollektive Erfahrung der Nicht-Dualität, und zweifellos ist es das, was in der Gesellschaft dringend gebraucht wird: Menschen, die gesehen haben, dass sie nicht ihr kleines Ego sind, sondern der weite Raum, in dem alles mit allem verbunden ist - und die nach dieser Erkenntnis handeln. Heute wird eine solche Erfahrung zumeist mit dem Begriff "Erleuchtung" bezeichnet. Thây tat dies ausdrücklich nicht, denn als buddhistischer Mönch konnte er sich selbst nicht für "erleuchtet" erklären. Ich finde den Begriff ohnehin ziemlich heikel. Es könnte leicht der Eindruck entstehen, die "Erleuchtung" sei etwas Besonderes (unser Ego liebt es, besonders zu sein, und wird die "Erleuchtung" sofort dazu benutzen, sich aufzuplustern zu einem "erleuchteten Ego") oder sie sei ein Stadium, das man ein für alle Mal erreicht. Das Erwachen zu unserem wahren Wesen jedoch ist - darin sind sich alle Lehrer einig - ein lebenslanger Prozess, der immer weitere Tiefen offenbart, aber auch immer neue Fallstricke bereithält.

Eine einmalige Erfahrung zu machen ist relativ leicht. Was aber geschieht danach? Suzuki Roshi sagte einmal: "Genau genommen gibt es gar keine Erleuchtung. Es gibt nur erleuchtetes Handeln im gegenwärtigen Moment." Und das gelingt uns mal mehr, mal weniger gut, denn wir fallen aus der Erfahrung der Einheit und Ganzheit schnell wieder heraus in die Getrenntheit. Adyashanti formuliert es deutlich: "Erleuchtung, wenn sie echt ist, erspart uns nichts und bewahrt uns vor nichts. Eigentlich ist die erleuchtete Perspektive letztlich das, was uns nicht mehr erlaubt, uns von irgendeinem Bereich unseres Lebens abzuwenden." Der Titel eines schönen Buches von Jack Kornfield lautet "After the Ecstasy the Laundry". Und Thây erinnert uns Schülerinnen und Schüler immer daran: "Erwachen ist unsere Praxis." 

***
 
Hier ein weiterer Auszug aus Thâys Tagebuch, den ich so schön finde, weil er in ihm unverfälscht von Emotionen spricht, die wir bei ihm nicht vermutet hätten - und die wir uns selbst leider so oft verbieten:

"Als der Sturm dann schließlich vorüber war, lagen Schichten von innerem Mörtel in Schutt. Ich war voller Wunden, und dennoch empfand ich mein Alleinsein als etwas fast Erregendes. Niemand würde mich in meiner neuen Manifestation erkennen. Niemand, der mir nahe stand, würde wissen, dass ich es war. (...) Wie könnten wir weiterleben, wenn wir nicht der Veränderung unterworfen wären? Um zu leben, müssen wir jeden Augenblick sterben. Immer wieder müssen wir in den Stürmen zu Grunde gehen, die Leben erst möglich machen. Es wäre besser, dachte ich, wenn alle mich aus ihrem Gedächtnis streichen würden. Ich kann kein menschliches Wesen sein und gleichzeitig ein unveränderliches Objekt von Liebe oder Hass, von Verehrung oder Ärgernis. Ich muss mich entwickeln. Als Kind wuchs ich aus den Kleidern heraus, die meine Mutter mir genäht hatte. Ich kann diese nach kindlicher Unschuld und mütterlicher Liebe duftenden Kleider der Erinnerung willen in einem Koffer aufbewahren. Aber ich muss jetzt neue, andere Kleider haben, damit sie dem passen, der ich geworden bin.
                         
 Wir müssen uns die Kleider selbst nähen und dürfen nicht einfach nur die von der Gesellschaft produzierte Fertigware akzeptieren. Die Kleider, die ich mir selbst nähe, mögen nicht der Mode entsprechen und für die meisten vielleicht sogar inakzeptabel sein. Aber es ist keine Sache der Kleider allein. Es hat damit zu tun, wer ich als Mensch bin. Das Metermaß, mit dem andere mich messen, lehne ich ab. Ich verwende mein eigenes Metermaß, eins, das ich selbst entdeckt habe, auch wenn ich mich damit in Opposition zur öffentlichen Meinung befinde. Ich muss der sein, der ich bin. Ich kann mich nicht zurück in die Schale zwängen, die ich gerade durchbrochen habe. Das macht mich sehr einsam. (...) Mir war schon früh klar, dass die Wahrheit finden nicht gleichbedeutend ist mit Glück finden. Du sehnst dich danach, die Wahrheit zu erkennen. Ist dir das aber gelungen, ist es nicht zu vermeiden, dass du leidest. Wäre es anders, hättest du nichts begriffen. Du bist immer noch den willkürlichen, von anderen festgelegten Konventionen ausgesetzt. (...) Du kannst Wahrheit nicht von anderen übernehmen, du musst sie unmittelbar erfahren."

(Aus: Thich Nhât Hanh "Der Duft von Palmenblättern", Herder Verlag, Freiburg. Das Buch ist vergriffen, aber z.B. über booklooker online noch erhältlich. In English: "Fragrant Palm Leaves", Parallax Press, Berkeley.)

Freitag, 12. Juni 2015

Thich Nhât Hanh: "Meine wahre Natur" (1. Teil)

Quelle: Wikipedia org.

Worum geht es im Zen? Es geht immer um das Erwachen zu unserem wahren Wesen. Die Übung, die zum Erwachen führt, kann ganz unterschiedlich sein - das stille Sitzen auf dem Kissen, das langsame oder schnelle Gehen in Raum und Natur und/oder die hellwache Präsenz in allem, was getan wird (Letzteres wird heute "Achtsamkeit" genannt). All dies bereitet eine große Erfahrung vor, die nicht unbedingt "schön" sein muss: Sie erschüttert vielmehr das Bild, das wir bisher von uns und der Welt hatten.

Viele Menschen, die keine Vorerfahrung im japanischen Zen haben, glauben, dass die Übung der Achtsamkeit in der Intersein-Schule von Thich Nhât Hanh nur dies sei: Langsames Gehen, Lächeln, Innehalten bei jedem Glockenklang und eine sehr umfassende Ethik. Mit ganzer Leidenschaft praktiziert, kann diese Übung jedoch zum Erkennen unserer wahren Natur führen! Als er Mitte Dreißig war, schrieb Thây, wie wir ihn nennen, ein Tagebuch. In Vietnam hatte er - enttäuscht vom offiziellen Buddhismus, der keine gelebte Erfahrung mehr war - mit Freunden ein Waldkloster gegründet. Dann ging er als Stipendiat an die Princeton University nach New Jersey, und dort hatte er eine Erfahrung, die er als Einblick in seine wahre Natur beschrieb. Solch eine Erfahrung kann man als Anfangsstadium des Erwachens bezeichnen, und natürlich wird sie für jeden Menschen anders aussehen. Die gute Nachricht aber ist, dass jeder Mensch fähig ist, diese Erfahrung zu machen.

Wer noch immer glaubt, "Achtsamkeit" sei ein Selbstzweck, um ein wenig gelassener, langsamer und gesünder zu werden, lese jenes Tagebuch.

***

In diesem ersten Teil geht es (stark gekürzt) um die Erfahrung selbst, in meinem nächsten Post auf diesem Blog in ein paar Tagen wird es um die Konsequenz gehen, die Thây daraus gezogen hat.

"Es begann im Oktober. Zunächst schien es nur so zu sein, als zöge eine Wolke vorüber. Nach ein paar Stunden aber hatte ich das Gefühl, als würde sich mein Körper in Rauch auflösen und davontreiben. Ich verwandelte mich in einen kleinen Wolkenfetzen. Bislang hatte ich immer geglaubt, ich sei ein solides, fest gefügtes Wesen. Und plötzlich stellte ich fest, dass es mir an Festigkeit völlig mangelte.Das war keine philosophische Erkenntnis. Noch weniger war es ein Erleuchtungserlebnis. Es war nur ein ganz gewöhnlicher Eindruck. Ich erkannte: Das Wesen, das ich bisher für mein 'Ich' gehalten hatte, war nichts anderes als eine Täuschung. Meine wahre Natur, so wurde mir klar, ist viel unverfälschter, sowohl hässlicher als auch schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können. (...)

Ich erkannte, dass ich leer bin, leer von Idealen, Hoffnungen, Standpunkten oder Loyalitäten. Da gibt es keine Versprechen, die ich einhalten müsste. In diesem Augenblick schwand das Empfinden, eine Entität unter anderen Entitäten zu sein, das heißt, eine von anderen Seinsweisen getrennte und unabhängige Existenz zu haben; es schwand das Gefühl, getrennt zu sein von allem anderen, was ist. Mir war bewusst, dass diese Einsicht ihre Ursache nicht in Enttäuschung, Verzweiflung, Furcht, Begierde oder Unwissenheit hatte. Leicht und leise hatte ein Schleier sich gehoben. Das war alles.

Wenn du mich schlägst, steinigst oder sogar erschießt, wird all das, was gemeinhin als mein 'Ich' angesehen wird, zerfallen. Dann wird sich das, was wirklich ist, offenbaren - so zart wie ein Nebelschleier, so schwer fassbar wie die Leere, und dennoch weder Nebel noch Leere, weder hässlich noch nicht-hässlich, weder schön noch nicht-schön. In dem Augenblick hatte ich das tiefe Gefühl, zurückgekehrt zu sein. Meine Kleider, meine Schuhe, ja das innerste Wesen meiner Existenz waren verschwunden, und ich war so sorgenfrei wie ein Grashüpfer, der sich auf einem Grashalm ausruht. Wie der Grashüpfer, so machte auch ich mir keine Gedanken über das Göttliche."
 
(Aus: Thich Nhât Hanh "Der Duft von Palmenblättern", Herder Verlag, Freiburg. Das Buch ist vergriffen, aber z.B. über booklooker online noch erhältlich. In English: "Fragrant Palm Leaves", Parallax Press, Berkeley)

Donnerstag, 28. Mai 2015

Begegnungen mit Joan Halifax


Ein Sommer in Südfrankreich in Plum Village, dem Zentrum von Thich Nhât Hanh. In jedem Retreat gab es den sogenannten lazy day, an dem wir - keineswegs freiwillig - zu allerlei Aktivitäten gebeten wurden: Basteln, Gartenarbeit, Yoga und dergleichen. Aktivitäten waren nicht mein Fall, aber in jenem Sommer gab es auch einen Vortrag: Joan Halifax aus den USA sprach über ihre Arbeit mit Sterbenden. Being with Dying. Sie hatte lange Haare und trug ein Sommerkleid und sprach voller Leidenschaft über Mitgefühl: "We live in a time when science is validating what humans have known throughout the ages: that compassion is not a luxury, it is a necessity for our well-being, resilience, and survival."

Sie war schön, sie war klug, sie war gebildet und strahlte eine wunderbare Wärme aus. Joan Halifax hatte in medizinischer Anthropologie promoviert und über ihr Fachgebiet, die Arbeit mit Sterbenden, Vorträge in der ganzen Welt gehalten. Später hörte ich, dass sie Lehrerin in der Schule von Thich Nhât Hanh geworden war, und noch später, dass sie Thich Nhât Hanh verlassen und von Bernie Glassmann zur Roshi, zur Zen-Meisterin, ernannt worden war. Sie gründete in Santa Fe in New Mexico das Upaya Zen Center und irgendwann, viele Jahre später, kam sie für ihr erstes und einziges sesshin in die Schweiz. Ich ging hin.

Sie war so lebendig wie immer, älter geworden, hatte sich als Zen-Nonne inzwischen von ihren Haaren getrennt, war aber immer noch schön. Im dokusan, dem Einzelgespräch, unterhielten wir uns wie Schwestern über unsere Erfahrungen auf dem Zen-Weg. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Diese Lehrerin hatte kein Interesse an Machtdemonstrationen, sie behandelte uns als Ebenbürtige. Es gab neben ihr nur Lebendigkeit, Begeisterung und unendliche Herzenswärme. Ich selbst war damals gerade dabei, mich von den in allen Zen-Schulen praktizierten Ritualen und eingefahrenen Strukturen zu lösen, um meinen eigenen Weg zu finden. Joan Halifax erzählte mir, dass sie dasselbe getan hatte. Und auch sie wurde für ihre Loslösung von ihren Lehrern kritisiert. (Eigenständige Geister sind in keiner etablierten Schule gern gesehen.) Mir war im richtigen Moment der richtige Mensch begegnet, und es war keineswegs ein Zufall, dass dieser Mensch eine Frau war.

Einmal, nach einem ihrer Vorträge, saß sie vor dem Altar und sah jeden von uns der Reihe nach intensiv an. Dazu muss man wissen, dass im klassischen japanischen Zen die Schüler Schwarz oder zumindest dunkle gedeckte Farben zu tragen haben. Wir dagegen waren ein bunter Haufen; ich hatte mich in einen herrlich tomatenroten Wollschal gewickelt. Sie sah uns also alle an, und ein Leuchten erschien auf ihrem Gesicht. Sie sagte: "Jede und jeder von uns hat ihre und seine eigene Farbe, ist das nicht wunderbar? Bitte zeigt eure eigene Farbe, sie wird von der Welt gebraucht."


Einen Eindruck von Joan Halifax bekommt man in diesem Video. Die Webseite ihres Zentrums in Santa Fe: www.upaya.org

Freitag, 22. Mai 2015

Der philosophische Kater über: Feiertage


Wir Katzen begreifen das menschliche Konzept der Feiertage nicht. Die Menschen feiern also nicht den Tag, sondern der Tag feiert etwas, was irgendwann an diesem Tag geschehen ist oder geschehen sein soll? Bei den Menschen ist alles immer gleich so groß, lang und unpersönlich. Es wundert uns Katzen deshalb nicht, dass bevorstehende Feiertage die Menschen in hektische Aktivität versetzen. Sie riechen dann anders, so scharf.

Als Kater kenne ich nur Feiermomente. Das ist zum Beispiel der Moment, in dem ich mich auf dem Rücken räkele, und dann kommt ihre Hand, um mich am Bauch zu kraulen. Oh Wonne! Oder der Moment, in dem ein Bällchen geflogen kommt. Besser noch: ein Brekkie. Und diese jungen Triebe der Hortensie hier auf dem Balkon, köstlich! Oder der Vogel da auf dem Dachfirst! Gleich werde ich den kriegen ... gleich ... Und dann fliegt er weg, aber das feiere ich als Katze auch, denn so kann ich mich in die Sonne legen und muss mich nicht anstrengen.

Feiermomente sind klein, kurz und sehr persönlich. Sie stehen nicht im Kalender, man kann sie nicht planen, vorher für sie einkaufen und die Wohnung putzen (die Menschen glauben merkwürdigerweise, beim Feiern müsse alles sauber sein). Sie überfallen einen einfach so. Jeder Moment kann unversehens zum Feiermoment werden. Aber die Menschen fühlen sich unbehaglich, wenn etwas Ungeplantes auftaucht. Und dann die Treppe nicht geputzt ist. Und ihnen so auf die Schnelle gar nicht einfällt, wie man den Moment eigentlich feiern soll.

Ja, ich als Katze habe beobachtet: Die Menschen haben Angst vor Feiermomenten.

Samstag, 16. Mai 2015

Northern Lights


Ein weiteres Lieblings-Stück der zeitgenössischen Chormusik: "Pulchra es, amica mea" des jungen norwegischen Komponisten Ola Gjeilo (*1978), das er schrieb, nachdem er die Nordlichter in seiner Heimat beobachtet hatte.

Pulchra es, amica mea,
suavis et decora filia Ierusalem.
Pulchra es, amica mea,
suavis et decora sicut Ierusalem,
terribilis ut castrorum acies ordinata.
Averte oculos tuos a me
quia ipsi me avolare fecerunt.

Hohelied

Schön bist du, meine Freundin,
süße und liebliche Tochter Jerusalems.
Schön bist du, meine Freundin,
süß und lieblich wie Jerusalem,
doch furchtbar wie die geordnete
Schlachtenreihe vor dem Lager.
Wende ab deine Augen von mir,
denn sie zwangen mich zu fliehn.