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Sonntag, 6. Juli 2025

Eine Tasse Tee

 


"In unserer Alltagssprache reden wir vom 'Menschen ohne Tee in sich', wenn er für die Tragikomik des eigenen Erlebens unempfänglich ist." Kakuzo Okakura

Als ich in der Villa Massimo in Rom lebte mit einem Stipendium des Bundes-Innenministeriums, merkte ich nach zwei Monaten, dass diese Villa mit ihren zwölf Stipendiaten (samt Familien) trotz ihres herrlichen Gartens für mich alles andere als ein Refugium war. Ich musste etwas finden, das mir half, in meine Zen-Welt einzutauchen. Ich fand es in der Urasenke-Teeschule bei Teemeisterin Signora Michiko Nojiri. 

Jede Woche fuhr ich eine Stunde lang quer durch die Stadt - wer jemals in Rom mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren ist, weiß, dass das keine Freude ist -, um eine Stunde lang japanische Tee-Zeremonie zu üben. Und dann eine Stunde zurück in die Villa zu fahren. Man muss schon ein Nerd sein, um das zu tun. (Oder eine geduldige Zen-Schülerin.)

Chado, der "Weg des Tees", ist eine der Zen-Künste, und als solche ist ihr tiefstes Anliegen natürlich das Erwachen zu unserem Wahren Wesen. Das streng Ritualisierte der Zeremonie erfordert einen Teeraum mit Tee-Geräten, einen Gastgeber und Gäste, die Teil der Zeremonie sind. Das kann man zu Hause nicht aufrechterhalten, aber wie immer im Zen liegt das Wesentliche jenseits des Äußeren, genau gesagt: Die Form ist nur das Medium, das die Erfahrung ermöglicht. 

Seit Rom habe ich eine tiefe Liebe zum Tee. Und damit meine ich nicht nur das Getränk selbst, sondern die Lebenshaltung, die für Japaner damit verbunden ist. 

Kakuzo Okakura war im 19. Jahrhundert ein Förderer der Künste in Japan und gründete sogar Kunsthochschulen. Später wurde er Direktor der ostasiatischen Abteilung des Museum of Fine Arts in Boston und lebte abwechselnd in Japan und den USA. Bei uns ist er vor allem durch "Das Buch vom Tee" bekannt geworden. Darin finden sich Sätze wie dieser: "Teeismus ist ein Kult, gegründet auf die Verehrung des Schönen inmitten der schmutzigen Tatsachen des Alltags."

Und so verehre ich das Schöne jeden Tag bei zwei, drei Tassen Tee. Am Vormittag, am Nachmittag, wie es gerade passt. Meine zwanzigminütige Teezeit ist das Reich der Schönheit; der Alltag findet dort nicht statt. Ich habe eine kleine feine Auswahl an Grüntees, die ich in zuverlässigen Tee-Geschäften kaufe. Meine Tees sind Diven. Jeder möchte eine andere Ziehzeit und schmeckt erst bei der richtigen Menge Blätter auf die richtige Menge Wasser, das die richtige Temperatur haben muss. Tee-Menschen sind ... speziell.

Aber bereits mit der Auswahl des Tees beginnt die Erschaffung der Schönheit. Jeder Handgriff wird bewusst ausgeführt. Ich gebe den Tee in den Becher, die Tasse oder das Kännchen (natürlich besitze ich eine kleine feine Kollektion hübscher Gefäße). Ich habe keine offene Feuerstelle, wie sie jeder klassische Teeraum hat, und keinen darüber aufgehängten Eisenkessel. Das stört mich nicht. Ich lausche meinem Wasserkocher, der sich, immer heftiger brodelnd, der vorher eingestellten Temperatur nähert, gieße Wasser auf die Teeblätter, stelle den Timer ein, und nach einer oder zwei Minuten setze ich mich an den Tisch, erschnuppere das Aroma und genieße. Kein Gedanke stört die Atmosphäre, keine weitere Handlung ist erforderlich. Nichts wird geplant, nichts erledigt. Handy und Laptop sind ausgeschaltet. Der Alltag ist weit weg. 

Ich trinke eine Tasse Tee. Das ist alles.



Diese kleine Alltags-Zeremonie kann bei dir auch ganz anders aussehen. Jedes Ritual muss zu dem Menschen, der es ausführt, passen; erst dann berührt es Herz und Geist und kann seinen Sinn erfüllen. Vielleicht hat dein Ritual gar nichts mit Tee zu tun. (Aber wenn es mit Tee zu tun hat: KEINEN TEEBEUTEL!) Vielleicht liest du ein Gedicht, eine Geschichte, hörst einen Song, eine Kantate. Es geht darum, in deinem Tag solche Inseln der Stille und Schönheit zu erschaffen. Auf solchen Inseln werden wir selbst still und von innen heraus schön, wir werden zu "Menschen mit Tee in sich". Und, in meinem Alter nicht zu vergessen: "Nur wer schön gelebt hat, kann auch schön sterben."

Das Buch von Okakura gibt es in zwei Ausgaben. Die linke aus dem Nikol Verlag, übersetzt von Tom Amarque, kostet 7 EUR. Die rechte aus der Insel-Bücherei, übersetzt von dem Japanologen Horst Hammitzsch und mit schönen Illustrationen versehen, kostet 15 EUR. Ich empfehle euch die Insel-Ausgabe, die Übersetzung ist poetischer und entspricht dem Tee-Geist mehr.

(Werbung) Wenn ihr online bestellen wollt, empfehle ich euch den gemeinwohlbilanzierten sozialen Buchversand Buch7, der soziale, kulturelle und ökologische Projekte unterstützt. Ihr werdet schnell und versandkostenfrei beliefert und ich erhalte eine (sehr kleine) Provision dafür. "Das Buch vom Tee" aus dem Nikol Verlag bestellen hier (klick).   "Das Buch vom Tee" aus der Insel-Bücherei bestellen hier (klick).

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