Heian-Schrein, Kyoto
Erschienen
in: EIAB Magazin, Europäisches Institut für Angewandten Buddhismus, Waldbröl, August 2019
Dieser Text wurde in der Vor-Corona-Zeit geschrieben, aber wenn ich die abstrusen Behauptungen der Verschwörungstheoretiker, Rechten und sonstigen Egozentriker aller Seiten höre und die Bilder der Demonstrationen in Berlin und Stuttgart anschaue, erscheint mir der Text sehr aktuell.
Eine warme Augustnacht in Plum Village, Anfang der 1990er Jahre. Zweihundert Menschen sitzen schweigend auf der Wiese vor Thays Hütte im Upper Hamlet, irgendwo dazwischen Thay selbst, der uns in dieser besonderen Nacht eingeladen hat, mit ihm zusammen das Aufgehen des Vollmonds zu betrachten. Den Erntemond des Monats August, der sich als strahlender Ball langsam über den Horizont schiebt. Jetzt greift jemand zur Shakuhachi, der Klang der Bambusflöte schwebt im Dunkel, die Grillen schrillen, und die südfranzösische Nacht ist zu einem Tempel geworden.
Eine warme Augustnacht in Plum Village, Anfang der 1990er Jahre. Zweihundert Menschen sitzen schweigend auf der Wiese vor Thays Hütte im Upper Hamlet, irgendwo dazwischen Thay selbst, der uns in dieser besonderen Nacht eingeladen hat, mit ihm zusammen das Aufgehen des Vollmonds zu betrachten. Den Erntemond des Monats August, der sich als strahlender Ball langsam über den Horizont schiebt. Jetzt greift jemand zur Shakuhachi, der Klang der Bambusflöte schwebt im Dunkel, die Grillen schrillen, und die südfranzösische Nacht ist zu einem Tempel geworden.
Die vielen
Sommer, die ich in Plum Village verbracht habe, sind ein Schatz meines Lebens.
Ich habe gelernt, dass jeder Augenblick – ob mit Mond oder ohne Mond - zum
Tempel wird, wenn ich innehalte und mit allen Sinnen wahrnehme, was in mir und
um mich herum geschieht. Und dass diese Aufmerksamkeit zu einer Lebenshaltung
werden kann, die wundersamerweise die Kraft hat, mich selbst und das soziale Gefüge
um mich herum unsichtbar und still im Gleichgewicht zu halten. Das ist nun
allerdings Menschen, die keine Meditationspraxis haben, schwer zu vermitteln.
Wir müssen heute gravierende Probleme lösen. Klimaerwärmung, Kriege, Migration,
die Ausbeutung der Ressourcen, ganz zu schweigen von Hass, Lügen,
Machtmissbrauch und Gier auf politischer und wirtschaftlicher Führungsebene.
Und dann wandeln da Hunderte Menschen still durch die Landschaft, halten inne,
um einer Glocke zu lauschen und bewusst zu atmen, anstatt im Mittelmeer
Flüchtlinge zu retten? Ich erinnere mich an eine Ärztin, die einst zu wissen
glaubte, warum ich krank war: „Sie haben die falsche spirituelle Praxis. Die
Buddhisten wollen ja nur ins Nirvana kommen und nichts mit der Welt zu tun haben.“
Intersein-Zentrum, Hohenau
Aber vielleicht wissen wir selbst nicht
immer so genau, warum wir uns in ein Retreat zurückziehen, und fragen uns
zweifelnd, ob das nicht doch ein wenig egozentrisch ist. Dann könnten wir uns
diese hübsche Zen-Geschichte erzählen. Ein junger Mann kam einmal zu einem
Zen-Meister und sagte beeindruckt: „Ich bin einem großen heiligen Mann
begegnet. Er kann in die Zukunft sehen und bringt seinen Schülern bei, dasselbe
zu tun.“ „Das kann jeder“, sagte der Zen-Meister gelangweilt. „Mein Weg ist
viel schwieriger. Ich bringe den Menschen bei, die Gegenwart zu sehen.“
Das klingt
banal und eigentlich selbstverständlich, erweist sich in der Praxis aber
schnell als Herausforderung. Will ich wirklich hellwach und präsent sein von
Moment zu Moment? Oder will ich mich lieber hinwegträumen in eine imaginäre
Zukunft oder einer Vergangenheit nachhängen, die es nicht mehr gibt? Die
Gegenwart zu sehen, sie genau wahrzunehmen, kann ein Leben nämlich
ganz schön auf den Kopf stellen. Wenn ich etwas anschaue, gleitet mein Blick
nur über die Oberfläche, ich lerne es nicht kennen in seinem einzigartigen
Sein. Ich kann es mir bequem vom Leib halten. Aber um es wahrnehmen zu können, muss ich mein Herz öffnen. Als
Schriftstellerin lese ich gern im Duden-Herkunftswörterbuch, das ist sozusagen
die Familiengeschichte der Sprache, der Stammbaum jedes Worts. Ich war ganz
aufgeregt, als ich las: Das „Wahr“ in „wahrnehmen“ bedeutete im
Althochdeutschen „Aufmerksamkeit, Acht, Obhut“. Ich nehme also das, was ich
wahrnehme, in die Obhut meines Blicks. Ich schaue es nicht von außen an, ich
will es vielmehr genau kennenlernen, damit ich für es sorgen, ihm Gutes tun
kann.
Der 2. Teil folgt.
Der 2. Teil folgt.
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