Freitag, 27. September 2019

Naomi Shihab Nye: Kindness. Güte.


Güte 

Naomi Shihab Nye


Bevor du weißt, was Güte wirklich ist,
musst du Dinge verlieren,
musst spüren, wie die Zukunft sich auflöst
in einem Moment,
wie Salz in einer schwachen Brühe.
Was du in deiner Hand gehalten,
gezählt und sorgsam bewahrt hast,
muss gehen, sodass du weißt,
wie verdorrt die Landschaft sein kann
zwischen den Regionen der Güte.
Wie du fährst und fährst und meinst,
der Bus wird nie anhalten,
die Passagiere essen Mais und Huhn
und werden für immer aus dem Fenster starren.

Bevor du den sanften Ernst der Güte erlernst,
musst du reisen, wo der Indigene im weißen Poncho
tot am Straßenrand liegt.
Du musst erkennen, dass dies du sein könntest,
dass auch er jemand war,
der durch die Nacht reiste mit Plänen
und nichts als seinem Atem, der ihn am Leben hielt.

Bevor du Güte erkennst als den tiefsten inneren Grund,
musst du den Kummer erkennen als den anderen tiefsten Grund.
Du musst aufwachen mit Kummer.
Du musst zu ihm sprechen, bis deine Stimme
den Faden allen Kummers erfasst
und du siehst, wie groß der Stoff ist.
Dann macht nur noch Güte Sinn,
nur noch Güte schnürt deine Schuhe
und schickt dich hinaus in den Tag, um Brot anzustaunen,
nur Güte, die ihren Kopf aus der Menge der Welt hebt 
und sagt, ich bin es, die du gesucht hast,
und dann mit dir überallhin geht,
wie ein Schatten oder ein Freund.


Übersetzung aus dem Amerikanischen: Margrit Irgang


6 Kommentare:

  1. Gestern hörte ich mir mit meiner erwachsenen Tochter dieses Gedicht an. Sie verstand es nicht. Also versuchte ich es mit meinen Worten zu erklären und eigene Erfahrungen einzuflechten. Die Erklärung gelang mir leicht, aber sie verstand das Gedicht nicht. Vermutlich gibt es nichts zu verstehen. Wenn man aber in seinem Leben das Tal der Tränen durchwandert hat und komplett in die Krise abgerutscht ist, versteht man es sofort. Vielen Dank für die tolle Übersetzung und den Hinweis auf diese große Dichterin. Sie trägt es wunderbar vor. Später machte ich einen zweiten Versuch bei meiner Tochter mit dem Gedicht von Nye: Gate A-4. Es steht auch auf Youtube und ist etwas leichter zugänglich. Das faszinierte auch sie.
    Simon

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    1. Als ich Deinen Kommentar las, Simon, dachte ich: Wie schön, dass Deine Tochter das Gedicht nicht versteht. Sie ist - bis jetzt - durch Eure Begleitung und das Leben vom "Tal der Tränen" verschont geblieben. Bis jetzt ... Liebe Grüße, Margrit

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    2. Ja, Margrit, sie versteht es noch nicht. Unsere Worte, die der Dichter, der Philosophen und der Religionsführer werden niemals ihr Leben erklären. Im Gegenteil, unsere Worte verhindern Güte, denn Güte kann nur erfahren werden, wenn wir ohne Worte sind. Güte ist jenseits des Begreifens. Wenn unsere gebrochenen Herzen plötzlich von Güte, Freiheit, Schönheit, Weisheit und Liebe geflutet werden, sind Worte leer. Aber wenn sich die Flut zurückzieht, brauchen wir wieder die Worte und sind froh, wenn wir da einen Faden finden, ein tief schürfendendes Gedicht, von einer, die diese Flut kennt.

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    3. Genau so ist es. Ich schicke ganz liebe Gedanken.

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  2. Danke für das wunderbare Gedicht.

    Ich bitte allerdings um eine kleine Korrektur: Das I Wort ist ein rassistisches Wort und für betroffene Menschen sehr verletzend.
    Wir können es zum Beispiel ersetzten mit indigene Frau oder indigenen Mann.
    Ich danke euch im voraus!
    Chris

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