Donnerstag, 11. Februar 2016

Der Glanz der Welt


"Eines Tages bügelte ich. Es war ein Sommernachmittag, das Fenster stand weit offen. Ich bügelte ein Taschentuch, das ich dreißig Jahre zuvor zur Konfirmation bekommen hatte. Es war weiß und hatte einen roten Rand mit weißen Tupfen; ein dünngewaschenes Taschentuch, an den Rändern ausgefranst. Irgendwo hupte ein Auto, Kinder riefen einander etwas zu; draußen der heiße Sommertag, drinnen ich und das heiße Bügeleisen, und da geschah es: Ich sah das Taschentuch. Ich sah es nach dreißig Jahren zum allerersten Mal. Es hatte einen Glanz, der mir den Atem nahm. Es war das Schönste, was ich je gesehen hatte.

Es war weiß und hatte einen roten Rand mit weißen Tupfen.

Thich Nhât Hanh sagt: 'Blitzartig leuchtet der Augenblick auf, um sogleich wieder zu verschwinden. Wir haben nicht wenig erreicht, wenn es uns in unserem Leben auch nur ein einziges Mal gelingt, wirklich zu sehen. Haben wir das einmal geschafft, so können wir Sehende bleiben. Die Frage ist nur, ob wir genügend Entschlossenheit und Eifer aufbringen.'

Ein tiefer Einblick in das, was ist, geschieht uns in dem Augenblick, in dem wir uns selbst vergessen. Wir vergessen, dass unser Rock nicht der neuesten Mode entspricht und unsere Haare gewaschen werden müssten. Wir sind weder mit unserer Vergangenheit noch mit der Zukunft beschäftigt, wir planen nichts, wir bedauern nichts. Es ist, als entstünde für den Bruchteil einer Sekunde ein Vakuum, ein Raum, in dem unser bewusstes Ego nicht anwesend ist. Der Tag ist heiß, das Ego macht ein Nickerchen, während wir (wer ist eigentlich dieses Wir?) tun, was wir zu tun haben. Bügeln vielleicht. Draußen hupt ein Auto, Kinder rufen einander etwas zu. Und da ... findet Sehen statt. Es ereignet sich, einfach so, in dem Vakuum, das entstanden ist. Das Leben spricht sich aus, unerwartet, ungerufen. Es überschüttet uns mit einem Glanz, der stärker ist als alles, was wir je erfahren haben. Der Träger des Glanzes ist ein Hund mit Flöhen. Ein Torbogen, in dem eine Katze schläft. Ein Taschentuch mit einem roten Rand und weißen Tupfen."

Aus: Margrit Irgang "Wunderbare Unvollkommenheit", Herder Verlag, ISBN 978-3-451-06740-2 (4. Auflage von "Zen-Buch der Lebenskunst")

Erhältlich bei der Buchhändlerin Ihres Vertrauens.
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Mittwoch, 3. Februar 2016

Gott aber spielt

Ein Vogel aus Gottes Spielkiste beim Landeanflug. Photo credit: David Nyblack.

"Spiel braucht kein Ziel. Darum kann das Spielen immer weitergehen, solange die Spieler es für sinnvoll halten. Schließlich tanzen wir ja nicht, um irgendwo hinzukommen. Wir tanzen im Kreis. Eine Symphonie endet nicht, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Genau genommen hat sie keinen Zweck. Es ist spielerische Sinnentfaltung, die sich in jedem ihrer Rhythmen, in jedem Satz und jedem Thema offenbart. Sinn zu feiern, darum geht es. Menzlers Kanon ist eine der großartigsten Überflüssigkeiten des Lebens. Wann immer ich ihm zuhöre, erkenne ich aufs neue, dass einige der überflüssigsten Dinge die notwendigsten für uns sind, weil sie unserem menschlichen Leben Sinn verleihen.

Diese Art von Erfahrung benötigen wir, um unsere Weltsicht zu korrigieren. Gar zu leicht neigen wir zu der Vorstellung, dass Gott diese Welt aus einem bestimmten Zweck erschuf. Wir sind dermaßen im Zweckdenken verfangen, dass wir uns sogar Gott als zweckgebunden vorstellen. Gott aber spielt. Die Vögel eines einzigen Baumes sind Beweis genug, dass Gott sich nicht mit einer göttlichen No-Nonsense-Haltung daran macht, eine Kreatur zu schaffen, die auf perfekte Weise den Zweck eines Vogels erfüllt. Was könnte dieser Zweck auch sein, frage ich mich. Es gibt Kohlmeisen, Schneefinken und Amseln, Sprechte, Rotkehlchen, Stare und Krähen. Der einzige Vogel, den Gott nie geschaffen hat, ist der No-Nonsense-Vogel. Öffnen wir unsere Augen und Herzen, dann sehen wir schnell, dass Gott ein spielerischer Gott ist, ein Gott der Muße."

David Steindl-Rast