Mittwoch, 21. Juni 2017

Sara Maitland "Das Buch der Stille"


"Ich sitze auf der Eingangsstufe meines kleinen Hauses mit einer Tasse Kaffee und schaue ins Tal hinunter auf die außergewöhnliche Aussicht auf Nichts. Das ist einfach wunderbar. Virginia Woolf hat uns in ihrem berühmten Essay die Einsicht vermittelt, dass jede Autorin ein Zimmer für sich allein braucht. Was meiner Meinung nach aber längst nicht genügt. Ich brauche ein ganzes Moor für mich allein. Oder, wie eine pikierte, doch offensichtlich einfühlsame Freundin kommentierte, als sie zu Besuch kam, um sich meine neueste Marotte anzuschauen: "Das gibt es nur bei dir, Sara - zwanzig Meilen Aussicht auf praktisch rein gar nichts!" Tatsächlich ist da aber gar nicht "nichts" - da sind die Wolkengebilde und die verschiedenen Bewegungen von Schilf und Gräsern, da gibt es Heide und Farn im Wind und wechselnde Farben, nicht nur im Jahresverlauf, sondern auch im Verlauf eines Tages, während sich Sonne und Wolken verändern und weiterwandern ..."

Sara Maitland, britische Roman- und Sachbuchautorin, hat ihr Haus in der Stille gefunden. Und kann nun endlich ein Buch schreiben über ihre jahrzehntelange Reise in die Stille und durch die Stille. Sie erzählt von Wanderungen im schottischen Hochmoor, Aufenthalten auf Inseln und der absoluten Stille in der Wüste. Sie erzählt, wie und wo Eremiten, Weltumsegler und Polarforscher die Stille gefunden haben und spricht über die Freuden und Gefahren von Stille. Was für ein fundiertes, gut recherchiertes Buch. Aber Stille ist ja eins meiner Lieblings-Themen, und ich vermisse hier einen wesentlichen Aspekt von Stille.

Für Sara Maitland ist Stille von äußeren Bedingungen abhängig; deshalb sucht sie entlegene Orte auf, und Stille, Schweigen und Alleinsein sind für sie nicht zu trennen. Sie betet drei Stunden am Tag, liest, denkt nach. Sogar auf ihrer Wüstenreise saß sie, abgesondert von ihrer Gruppe, in einer Felsspalte und las. Wer jemals eine Woche in einem Schweige-Retreat verbracht hat, weiß, dass der größte Lärm nicht außen, sondern innen ist: das unablässige Kommentieren, Beurteilen, Abwägen, Hoffen und Befürchten, das im Geist abläuft. Mit Verblüffung habe ich gesehen, dass dies für Sara Maitland kein Thema ist, im Gegenteil: Sie sucht die Stille auch, um nachdenken zu können und "eine bessere Autorin" zu werden.

Einmal vergleicht sie die Stille der christlichen Mystiker mit jener der Buddhisten. Der Christ, sagt sie, stelle seine Beziehung zu Gott durch seine Persönlichkeit her, die immer erhalten bleibe; der Buddhist dagegen wolle sich im Nirvana oder der Erleuchtung auflösen. Dieses falsche Verständnis von Buddhismus begegnet mir häufig. Der Mensch mit seiner "Persönlichkeit", also seiner eigenen Ausdrucksform des Göttlichen, löst sich natürlich nicht auf; wer Zen und andere buddhistische Meditationsformen praktiziert, kann erkennen, dass er Nirvana und erleuchtetes Sein ist. Der Urgrund des Seins ist Stille - deshalb ist das tiefste Wesen des Menschen die Stille. Um das erkennen zu können, muss man nicht unbedingt allein sein; gerade eine Gruppe schweigender Menschen in einem Retreat kann ungemein tragend sein und die Stille und somit die Erfahrung vertiefen. Letztendlich ist nicht einmal Schweigen eine Bedingung: Wenn man die Praxis der Alltags-Meditation gelernt hat, steigen auch die Worte aus der Stille auf und sind von Stille durchtränkt.

Mir scheint, es ist genau diese Stille, die Sara Maitland im Tiefsten sucht, aber sie ist ihr noch nicht ganz geheuer. Denn sie hat schon bemerkt, dass das Eintauchen in die Stille sich nicht gut verträgt mit dem Erzählen von Geschichten, die einen "Plot" verlangen, eine Dramaturgie brauchen und die Existenz von Anfang und Ende suggerieren. Sie erkennt: "Ich möchte Stille schreiben", weiß aber noch nicht, wie das gehen soll.

Auf jeden Fall ist dies ein kundiges, eloquent formuliertes Buch über die Stille, geradezu ein Standardwerk zum Thema. Ich finde es schön, dass der kleine und feine Verlag edition steinrich das Buch jetzt auf Deutsch herausgebracht hat. Es ist wie ein Spiegel, in dem wir unsere eigene Erfahrung von Stille überprüfen können. Sara Maitland "Das Buch der Stille", übersetzt von Karin Petersen, edition steinrich. 

(Wegen Rechtsunsicherheit als Werbung gekennzeichnet.)

For my English speaking readers: Sara Maitland "A Book of Silence" has been published by Granta Books.

4 Kommentare:

  1. Liebe Frau Irgang, danke , ich habe mir das Buch gleich bestellt.

    Wenn es nur einmal so ganz still wäre.
    Wenn das Zufällige und Ungefähre
    verstummte und das nachbarliche Lachen,
    wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
    mich nicht so verhinderte am Wachen-

    Dann könnte ich in einem tausendfachen
    Gedanken bis an deinen Rand dich denken
    und dich besitzen(nur ein Lächeln lang),
    um dich an alles Leben zu verschenken
    wie ein Dank.
    R.M.Rilke

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    1. Danke, Frau Haas. Das schöne Rilke-Gedicht lese ich manchmal in meinen Schweige-Seminaren vor, abends, wenn außen (und endlich auch innen) alles still ist ...

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  2. Maitland zieht sich zurück in die Stille: äußerlich in eine Haus mit Blick über die weite Landschaft, ein Tal und da scheint sich „nichts“ besonderes zu ereignen. Das ist sicherlich förderlich für die Intuition beim Schreiben. Wenn Sie aber den Blick nach Innen richtet, ist da auch ein weites Tal zu erkennen? Danach kling es eher nicht, denn allein schon der Anspruch eine „bessere Autorin“ zu werden, ist eine Einengung, die - eventuell mit dem nicht ausgesprochenen Anspruch auf den Literaturolymp an der Seite von Virginia Woolf - dann in die völlige Selbstüberforderung führen könnte. Die eigentliche Kunst ist es meiner Meinung nach, den inneren Zustand der Klarheit und des Friedens herzustellen, der frei von Ansprüchen ist. Dann ergibt es sich vielleicht, dass man ein paar Eindrücke aufschreibt. Und ob das andere später einmal als Kunst einer großen Autorin einordnen, sollte eigentlich keine Rolle spielen. Simon

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    1. Für mich war das Lesen dieses Buches eine spannende Erfahrung. Ich spüre bei Sara Maitland ein Festhalten an vielen Vorstellungen über ihre "Persönlichkeit", die sie nicht verlieren möchte. Ich habe überlegt, ob dies ein Unterschied zwischen westlicher und, sage ich mal, östlicher Spiritualität ist. Rumis Wunsch "Mache mich zu deinem Instrument" ist ihr, glaube ich, eher fremd. Aber das ist vielleicht nur unsere Sichtweise als Zen-Praktizierende. Es gibt so viele Facetten der Erfahrung; jene, die zu diesem Buch geführt haben, sind auch wichtig.

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