Dienstag, 25. April 2017

Kintsugi. Die Schönheit des Zerbrochenen.


Der japanische Shogun des 14. Jahrhunderts Ashikaga Yoshimitsu zerbrach einst seine liebste Teeschale. Er ließ sie nach China schicken in der Hoffnung, sie von erstrangigen Keramikern so repariert zu bekommen, dass sie wieder wie neu aussehen würde. Als die Schale jedoch zurückkam, war er entsetzt: Die Scherben waren lieblos mit Metallklammern zusammengefügt. Da beauftragte er die besten Keramiker seines Landes mit der Reparatur. Nach langem Experimentieren präsentierten sie dem Shogun eine Teeschale, die aus den Scherben der alten bestand, aber ganz und gar neu war: Sie hatten die Bruchlinien mit einer Paste zusammengeklebt, der sie reinen Goldpuder zugesetzt hatten. Sie nannten das Verfahren kintsugi. Kin = golden, tsugi = zusammenfügen.

Anstatt die Beschädigung zu verstecken, hatten die Keramiker sie in einem künstlerischen Akt betont und die Schale zu wahrer Schönheit erhoben.

Kintsugi wird bis heute in Japan ausgeübt, und seine Symbolik hat viel mit Zen zu tun. Wenn unsere Pläne, unsere Ziele, unsere Gesundheit, unser Arbeitsplatz, unsere Ehe vom Leben einfach so zerbrochen werden - was tun wir dann? Suchen wir uns eine anerkannte Autorität, die sich irgendwie den Ruf erworben hat, Experte für das Zusammenfügen von Zerbrochenem zu sein, und möglichst weit entfernt lebt und teuer ist (Arzt / Therapeutin / Guru / Zen-Meisterin / Priester); erwarten wir, dass die Person unser Leben so wieder herstellt, wie es vorher war? Versuchen wir selbst verstohlen, aus den Scherben die alte Form wieder herzustellen, vielleicht indem wir sie notdürftig verklammern mit irgendwelchen Arrangements oder falschen Kompromissen, die keinen Beteiligten glücklich machen? Verstecken wir verschämt unsere Gebrochenheit vor der Welt, weil sie nicht hineinpasst in die allgemeinen Vorstellungen von Perfektion, Fitness und "Glücklichsein"?

Oder fällt uns rechtzeitig ein, dass wir die einzigen Experten für unser Leben sind, sammeln die Scherben auf und setzen sie (vielleicht hilft ein naher Mensch dabei) liebevoll zu einer ganz neuen Form zusammen? In ihr ist das Alte immer noch enthalten, aber jetzt ist es tragfähig geworden, denn wir haben jeden winzigen Rest-Splitter unseres Lebens zusammengefügt mit unserer Behutsamkeit, Achtsamkeit und Wertschätzung, unserem Mut und unserer Kreativität - unseren kostbaren Fähigkeiten, die Gold wert sind.

Vorher sah unser Leben aus wie das Leben vieler anderer. Jetzt ist es einzigartig. Ganz und gar unseres. Ein Lebens-Kintsugi.


9 Kommentare:

  1. Ein sehr schönes Bild.
    Wir haben hier auch eine Rakuschale mit Deckel - sie wurde auch beim Brand leicht beshcädigt und hat diese wunderbaren Goldlinien, mit der sie zusammengesetzt wurde. Wir lieben sie...
    herzliche Grüße von Ellen

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  2. oh...das ist so schön...Liebe Grüße, nun schon wieder aus München...Taija

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  3. Manchmal denke ich, Sie schreiben ganz allein für mich :). Auf alle Fälle über Zusammenhänge, die mich gerade bewegen. Heilwerden ist gerade mein Thema und das will mir so gar nicht gelingen beim Thema Gesundheit. Ja, ich hatte schon viele Experten am Werk. Lebens-Kintsugi, was für ein schöner Gedanke.
    Herzlichen Dank!

    Susanne

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  4. Vielen herzlichen Dank für Eure schönen Kommentare! Ich habe ein längeres Seminar gegeben und konnte sie erst jetzt einstellen.

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  5. Ähnlich ist vielleicht auch Oscar Wilde zu verstehen: "Herzen sind dazu da, gebrochen zu werden." Wenn wir nur den vom Verstand geleiteten Weg gehen, erleben wir nur einen Bruchteil des möglichen Potentials. Hören wir auch auf unsere innere Stimme des Herzens, entdecken wir unser volles Potential. Zur Entfaltung gehören aber auch schwierige Situationen und Verletzungen, das Herz wird - im übertragenen Sinn - gebrochen.
    Simon

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    1. Auch das ist eine wichtige Facette des Themas, Simon. Danke.

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    2. ...Herzen können manchmal sehr stark brechen....und brauchen mitunter lange, lange um sich zusammenzusetzen. Auch kann es sein, dass die Stimme des Herzens zwar erhört werden kann und sich dennoch keine Lösung findet.Wo nimmt man dann das Gold her, das hilft?Liebe Grüße, Taija

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    3. Der Schamane Malidoma Somé sagt: "Deine Wunden sind die Hülle für das Gold, das du in dir trägst." Das Gold wäre also schon da, innen. Und wir müssten behutsam die Wunde offen legen, um es zu finden. Ist nicht Kunst manchmal genau das? Offenlegen einer Wunde, um Gold zu schürfen?

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    4. Das gebrochene Herz heilt fast nie sofort und spontan. Der Spruch „die Zeit heilt alle Wunden“ taugt wenig, da er meine Hilflosigkeit betont. Da ist das Sprichwort „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ schon ein besserer Ansatz, weil er uns auffordert über das gebrochene Herz mit anderen zu reden. Also unseren Schmerz für andere zu öffnen, ihn achtsam, genau und zärtlich zu untersuchen, ihn aufzuschreiben, Veränderungen zu bemerken, etc. Aus der buddhistischen Philosophie kommt aber noch ein weiterer, erstaunlicher Ansatz dazu: trotz unseres gebrochenen Herzens sollen wir – anstatt uns erst mal um uns selbst zu kümmern - unser Herz und unser Mitgefühl für das Leiden aller Menschen öffnen. Wenn wir unser gebrochenes Herz mit dem Leiden aller verbinden, mitschwingen, leiden wir persönlich weniger.
      Simon

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